Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
zur Familie.«
Cate und ich kehrten an unseren Platz an der Kirchenmauer zurück und lehnten uns gegen das Gemäuer. Die Sonne stand jetzt noch tiefer und strahlte die Baumstämme von hinten an und alles, was davor war.
Plötzlich fiel mein Blick auf etwas, das ich bisher übersehen hatte. Oben auf einem der niedrigen Granitobelisken, die die Familiengräber am Hauptweg markierten, lag ein kleiner Gegenstand.
»Cate?« Ich setzte mich auf.
»Was ist?«
»Ich glaube, jemand hat einen Schuh gefunden.«
16
Cate und ich sprangen auf und liefen über das trockene Gras.
Ich hatte recht: Der von hinten erleuchtete Gegenstand war ein kleiner weißer Turnschuh, aber wir wollten ihn beide nicht anfassen, bevor Skwarecki wieder da war.
Cate schritt langsam um den Stein herum.
»Es steht etwas drauf«, stellte ich fest.
Ich ging in die andere Richtung um den Sockel und blieb neben Cate stehen, aber die Hälfte des verschlungenen Logos wurde vom Schatten des angetrockneten Schlamms verdunkelt.
Ich bückte mich und nahm einen Stock vom Boden, mit dem ich den Schuh ganz sanft ins Abendlicht schob.
Ich las: »Club Melmac.«
»Was ist das, die Marke?«
»Nein.« Ich ließ den Stock fallen und stand auf. »Das ist der Name von Alfs Heimatplanet.«
Cate schnappte nach Luft. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie wieder zu atmen begann. Schließlich keuchte sie, als hätte sie einen Schlag in den Magen bekommen.
»Oh, Maddie, die arme Frau. Das ist ja schrecklich.«
»Stimmt«, sagte ich. »So eine Scheiße.«
Obwohl mir die Sonne auf den Rücken schien, fröstelte ich. Ich schlang die Arme um den Oberkörper, aber ich konnte das Zittern nicht unterdrücken.
Bevor Mrs Underhill aufgetaucht war, hatten wir auf die Wiese gestarrt und den Schuh nicht gesehen. War es möglich, dass sie ihn dort abgelegt hatte?
Nein, das was lächerlich. Es war einfach der Einfall des Lichts, der sich verändert hatte.
Außerdem hatte Mrs Underhill den Friedhof gar nicht betreten, sondern die ganze Zeit draußen am Tor gestanden. Und während wir uns mit ihr unterhielten, hätten wir mit Sicherheit die Schritte auf dem trockenen Gras gehört, wenn jemand hinter uns gewesen wäre, um den Schuh dort zu deponieren.
Und wieso hätte die alte Dame eine Verbindung zwischen ihrem vermissten Urenkel und dem Kind, das wir gefunden hatten, fingieren sollen?
Paranoia. Reiß dich zusammen, bevor du überall Verschwörungen witterst.
»Alles klar?« Cate streichelte mir sanft über die Schulter. »Du zitterst ja.«
»Mir ist nur kalt.«
»Ich hol dir meine Jacke aus dem Auto.«
»Es geht schon.«
»Ich hole dir meine Jacke«, beharrte sie.
Sie durchquerte mein Blickfeld und war mit einem Dutzend langer Schritte an ihrem Wagen.
Ich antwortete »okay«, auch wenn sie längst außer Hörweite war.
Im gleichen Moment tauchte Skwareckis Dienstwagen auf und kam direkt vor dem Tor zum Stehen.
Skwarecki bückte sich neben dem winzigen Schuh. »Ihr wart gut heute.«
Die Ermittlerin hatte sich wieder Latexhandschuhe übergezogen und benutzte denselben Stock wie zuvor ich, um den Turnschuh an der noch gebundenen Schleife hochzuheben und ihn vorsichtig in die braune Papiertüte zu packen, die sie aus ihrem Kofferraum mitgebracht hatte.
»Es fühlt sich nicht gut an«, entgegnete Cate. »Nur schrecklich traurig.«
Skwarecki schloss die Tüte. »Sie müssen sich auf das Positive konzentrieren. Dieser kleine Junge kann endlich ordentlich begraben werden. Und seine Familie kann Frieden finden.«
»Ich versuche es«, sagte Cate.
Sie ging ein Stück von uns weg und kickte mit der Schuhspitze im Kies herum.
»Aber haben sie alle Frieden verdient?«, fragte ich. »Ich meine, ich glaube kaum, dass Mrs Underhill etwas mit seinem Leid zu tun hatte, so, wie ich sie heute kennengelernt habe und wie Sie sie beschrieben haben. Aber seine Mutter? Meinen Sie, dass wir ihren Sohn identifiziert haben, bringt ihr Frieden?«
Skwarecki sah mich mit geschürzten Lippen an, dann legte sie den Kopf schräg und zog die Schulter dazu hoch.
Nein, das meinte sie nicht. Nicht eine Sekunde.
Ich nickte, und Skwarecki senkte den Blick, nahm einen Stift aus der Tasche und trug Wörter und Zahlen in die unterstrichenen Kästchen auf dem Etikett der Papiertüte ein.
»Wie kommt es, dass Sie diesmal keine Plastiktüte verwenden?« Ich erinnerte mich, dass sie den Wirbel in eine andere Tüte gepackt hatte.
»Je nach Spurenmaterial muss es manchmal Papier sein.«
Ich sah
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