Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
Zahnarztunterlagen?«
»Nein«, antwortete sie. »Ich habe die Mutter heute Morgen danach gefragt.«
Ich dachte an den zertrümmerten Brustkorb »unseres« Kindes und an all die anderen Brüche, über die der Gerichtsmediziner sagte, sie seien nie behandelt worden. Falls es sich um den vermissten Jungen handelte, klang es nicht so, als hätte er je einen Arzt gesehen. Wahrscheinlich war Skwarecki dieser Gedanke auch schon gekommen.
»Und wie ist der Frau ihr Kind abhandengekommen?«, fragte ich. »Waren sie am Strand oder so was? In einem vollen Kaufhaus?«
Ich wollte die Frau, der ich nie begegnet war, nicht vorverurteilen. Vielleicht hatte sie überhaupt nichts zu tun mit den geschundenen Knochen, die wir gefunden hatten. Vielleicht hatte sie tatsächlich den schlimmsten Verlust erlitten, den Eltern erleben konnten. Einen Moment lang hoffte ich es, selbst wenn es bedeutete, dass wir nie herausfinden würden, zu wem das Kind auf dem Friedhof gehörte.
Doch dann dachte ich, es wäre besser, Gewissheit zu haben – es wäre besser, wenn Skwarecki den Täter fand.
»Sie sagte, sie war unterwegs, weil sie Arbeit suchte«, sagte Skwarecki.
»Sagen Sie jetzt nicht, dass sie ihr dreijähriges Kind allein zu Hause gelassen hat«, warf Cate ein.
»Nein.« Skwarecki schloss einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, sah sie sehr, sehr müde aus. »Sie sagte, sie hätte ihn bei jemandem gelassen, dem sie absolut vertraute.«
Mir wurde kalt, als wäre mir das Eiswasser aus dem Bauch in die Adern gesickert, hinauf in den Brustkorb, die Lungen und das Herz.
Ich sah Skwarecki an. »Freund oder Stiefvater?«
Wieder schloss sie die Augen, diesmal länger. »Freund. Ein Mann namens Albert Williams.«
15
»Und was sagt dieser Albert Williams dazu?«, fragte ich. »Ein Kleinkind ist zum Kiosk gelaufen, um Zigaretten zu holen?«
Cate legte mir die Hand auf den Arm. »Madeline, wir wissen nicht, ob diese Leute die Schuld trifft.«
Ich starrte auf meine Turnschuhe.
Cate nahm die Hand wieder weg. »Detective Skwarecki, was hat der Mann dazu gesagt?«
»Williams behauptet, sie saßen zusammen vor dem Fernseher und er ist eingeschlafen. Als er aufgewacht ist, stand die Tür offen und der Junge war weg.«
Ich schüttelte den Kopf und schnaubte.
»Die Haustür?«, fragte Cate.
»Die Tür des Motelzimmers«, erklärte Skwarecki. »Sie haben draußen bei LaGuardia gewohnt, in einem dieser Motels, wo das Sozialamt vorübergehend Leute unterbringt.«
»Und dort haben Sie heute mit ihr gesprochen?«, fragte Cate.
»Nein. In der Anzeige hat sie die Adresse und die Telefonnummer ihrer Großmutter angegeben. Dort habe ich sie getroffen.«
»Und wo lebt die Großmutter?«, fragte ich.
»Nicht weit von hier«, sagte Skwarecki. »Doppelhaushälfte. Die Großmutter ist die Eigentümerin.«
Zum ersten Mal heute lächelte sie ein bisschen.
»Ich sage Ihnen, das ist eine sture alte Dame. Für den Kleinen geht sie auf die Barrikaden.«
»So stur wie die Mutter?«, fragte Cate.
»Die Mutter … na ja …« Skwarecki sah zur Decke. »Sagen wir, sie fängt in nächster Zeit wahrscheinlich nicht bei IBM an. Oder auch nur bei Seven-Eleven.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Cate.
Skwarecki zuckte die Schultern. »Wenn man bei der Mordkommission ist, weiß man, wenn man einen Crack-Junkie vor sich hat.«
»Das bricht mir das Herz«, sagte Cate.
Ich legte den Arm um sie und sah Skwarecki an. »Glauben Sie, wir haben ihren Sohn gefunden?«
»So, wie die heute Morgen aussah, fragt man sich, ob sie gemerkt hat, dass er weg ist.«
»Aber sie hat doch die Vermisstenanzeige aufgegeben, oder?«, fragte Cate. »Es könnte doch sein, dass sie vor lauter Verzweiflung abgestürzt ist – nachdem sie ihren Sohn verloren hat.«
»Vielleicht«, sagte Skwarecki gutmütig. »Aber es war ihre Großmutter, die dafür sorgte, dass es zu der Anzeige kam. Darauf können Sie Gift nehmen.«
»Die Großmutter kam mit aufs Revier?«, fragte ich.
»Die Mutter war überhaupt nur beim ersten Mal dabei. Seitdem kam die alte Dame oft allein. Deswegen sind wir so schnell auf die Anzeige gestoßen. Der diensthabende Polizist sagt, es kennen sie alle da unten. Sie backt ihnen immer Kekse.«
»Stand denn irgendwas in der Anzeige, das uns vielleicht hilft, den kleinen Jungen zu identifizieren?«, fragte ich.
»Seine Kleidung, als er verschwand.«
Cate sah auf. »War die Mutter in der Lage zu beschreiben, was er anhatte, und vertrauen Sie ihren
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