Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
erlebt.«
»Stiefväter, okay«, sagte ich. »Aber ich hab nur einmal eine Ohrfeige kassiert. Mom und Michael haben eine Dinnerpartygegeben, und ich bin die ganze Zeit auf der Matratze herumgehüpft und habe aus vollem Hals ›Fee fi fo fum‹ gesungen, nachdem sie mich ins Bett gesteckt hatten, eine Stunde lang.«
»Ich hätte dich aus dem Fenster geworfen.«
»Ja, oder? Ich meine, wir sind schließlich nicht geschlagen worden oder so was.«
»Nein.«
»Oder sonst wie missbraucht.«
Pagan schwieg.
Nach ein paar Sekunden nahm ihr Schweigen eine unheimliche Schwere an.
Meine kleine Schwester trank noch einen Schluck Bier.
Plötzlich wurde mir kalt. Diese kriechende Gänsehaut, die ich auf dem Friedhof gespürt hatte, als Skwarecki erzählte, wie Teddy zum letzten Mal lebend gesehen worden war. Ich sah, dass sich die kleinen Härchen auf meinen Unterarmen sträubten.
»Pagan?«
»Das mit Pierce«, sagte sie.
» Was mit Pierce?«
»Ich habe dir davon erzählt.«
»Ich würde mich garantiert erinnern, wenn du mir irgendwas erzählt hättest, was mit diesem dummen, aufgeblasenen, arroganten, miesen, widerlichen Drecksack zu tun hat«, sagte ich.
Meine Schwester lehnte sich zurück und legte den Kopf auf eins der Tweedkissen. Mit dem großen Zeh zog sie den Couchtisch näher heran und legte die nackten Füße darauf.
Ein einsames Auto rauschte durch die Straße.
Ich zog die Knie an die Brust und sah sie von der Seite an.
Sie sah zur Decke. »Komisch.«
»Was ist komisch?«
»Dass du es nicht weißt«, sagte sie. »Ich könnte schwören, ich hätte es dir schon vor Jahren erzählt.«
19
Ich könnte schwören, ich hätte es dir schon vor Jahren erzählt.
Es vergingen ungefähr dreißig Sekunden, nachdem meine Schwester die Worte ausgesprochen hatte – eine halbe Minute, während der in meinem Kopf jede noch so kleine Erinnerung an Pagans und meine gesamte Kindheit durcheinanderwirbelte.
Ich war elf, als Pierce bei uns einzog. Pagan war neuneinhalb. Mom hatte sich 1967 von unserem Vater getrennt, und 1972 vom Vater unseres Bruders Trace.
Pierce betrat die Bühne nach Moms je etwa einjährigen Affären mit einem sehr süßen Siebzehnjährigen und einem frisch geschiedenen südafrikanischen Mathematiker, mit dessen Kindern wir an den Wochenenden, wenn sie bei ihm waren, spielten.
Eigentlich waren wir ganz zufrieden. Die einzigen noch verheirateten Eltern, die wir kannten, waren Mr und Mrs Neare, die ab sieben Uhr früh ein Glas grünes Hi-C mit Schuss nach dem anderen kippten. Hi-C war ein Fruchtsaftgetränk, dessen grüne Variante nach saurem Apfel schmeckte. Der Schuss war Wodka.
Wenn am Nachmittag der Schulbus die Kinder nach Hause brachte, konnten sie kaum noch die Victrola-Nadel auf die nächste rechtskonservative Mantovani-Platte setzen.
Alle anderen Mütter hingen beieinander in der Küche herum, die Hälfte davon mit Kleinkindern auf dem Schoß. Sie tranken Kaffee oder ein Glas Wein, lachten viel, machten Witze über weggelaufene Männer und die Mythen derfünfziger Jahre, mit denen sie aufgewachsen waren: Monogamie, die Kalendermethode oder die Börse.
Das war die Oberfläche der Dinge. Die Version, die Mom auf Cocktailpartys an der Ostküste erzählte, um zu beweisen, wie viel besser alles war, seit wir von Long Island nach Kalifornien gezogen waren.
Darüber, dass nie genug Geld da war oder wie grell das Licht in der Küche war, wenn sie mitten in der Nacht Eiswürfel in ein Handtuch einschlug, um das Veilchen oder die Würgemale einer anderen Mutter zu kühlen, redete Mom nicht.
Dann gingen sie auf Zehenspitzen nach draußen, um schlafende Kinder sanft vom Rücksitz eines geschrotteten Kombis zu holen, die Decke fest von den kleinen Fäusten umklammert, die speckigen Wangen rot erhitzt in den Ganzkörperschlafanzügen.
Im Großen und Ganzen waren wir zufrieden, Pagan und ich. Trotzdem suchten wir bei der ersten Gelegenheit das Weite. Ich bekam ein Stipendium am Internat meiner Mutter, Pagan bekam von ihrer Patentante ein Jahr in der Schweiz finanziert.
Ich riss vor Pierce’ ätzender Anwesenheit aus, aber ich hätte nie gedacht, dass er auch hinter dem Exodus meiner Schwester steckte.
Denn ich war das Kind, das er nicht leiden konnte: die blöde Kuh, die Klugscheißerin, die Königin der Impertinenz.
Es machte ihm Spaß, seine Gunst ungleich zu verteilen, und so sagte er mir ständig, wie fett und hässlich ich im Vergleich zu meiner schlanken dunkelhaarigen Mutter und meiner
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