Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
»Das Universum hat Ene-mene-miste gespielt.«
»Und dann?«, fragte ich.
»Es war einmal vor langer, langer Zeit, in einer Galaxie weit, weit entfernt …«
Ihr Stuhl quietschte, als sie sich zurücklehnte.
»Es war mein allererster Tag bei der Truppe, wissen Sie. Ich komme frisch von der Polizeiakademie, 1967, und sie schicken mich ausgerechnet nach Bed-Stuy, verdammte Scheiße. Ich bin zwanzig Jahre alt, in diesem blöden Rock und schrecklichen Strümpfen, und sie drücken mir eine Handtasche mit einem Holster drin in die Hand und ein verdammtes Politessenhütchen, in dem ich aussehe wie eine Pan-Am-Stewardess, okay?«
»Autsch.«
»Übrigens«, fuhr sie fort, »war das Ewigkeiten, bevor Angie Dickinson als Sergeant Suzanne ›Pepper‹ Anderson den Weg für weibliche Bullen geebnet hatte, ja? Ich gehe also zu meiner allerersten Acht-Uhr-Schicht, undder diensthabende Sergeant sieht mich in meinem Kostüm – mit großen Augen und rosigen Wangen –, und dann fängt er an rumzuschreien, wer der Witzbold ist, der ihn verscheißern will, indem er ihm ein verdammtes Mädel schickt, er hätte schon genug Scheiße am Hals, ohne dass er den Babysitter für Barbie und Bambi spielen muss.«
»Verstehe. Ich hätte zu heulen angefangen.«
»Ich sage Ihnen was, ich hatte mir diesen Scheiß schon Monate angehört, noch vor der Polizeiakademie. Sie hätten mal meinen Vater hören sollen – und meine Brüder ! Wenn man Glück hat, wird man auf dem Ohr taub. Und dieser Arsch hinter seinem Schreibtisch macht auch nicht lang rum. Wirft die Hände in die Luft und sagt: ›Passen Sie bloß auf, dass Sie keinen Ärger machen. Tun Sie einfach nichts. Gehen Sie auf der Straße vor der Wache auf und ab, damit ich Ihr Gesicht nicht sehen muss, Schätzchen, ich habe nämlich eine Menge zu tun heute Morgen.‹«
»Welche Jahreszeit war das? Ich meine, hat er Sie raus in den Schnee geschickt oder so was?«
»Oktober«, sagte sie. »Ein Tag zum Picknicken.«
»Sie mussten also raus und sind den ganzen Tag auf dem Bürgersteig auf und ab spaziert?«
»Das wollten sie mir weismachen. Und zuerst ist viel los – acht Uhr morgens, die Nachtschicht geht, die Frühschicht rückt an –, eine Menge Leute, die sich rumschieben. Rein und raus. Und ich versuche, einfach nicht über den Haufen gerannt zu werden, mich rauszuhalten, auf dem verdammten Bürgersteig auf und ab zu laufen.«
Ich höre, wie sie einen Schluck Kaffee oder so trank.
»Nach einer Weile«, fuhr Skwarecki fort, »fällt mir so ein Typ auf, der auf dem Bordstein sitzt, vielleicht zehn Meter vom Revier entfernt. Er hält sich den Kopf, die Knie angezogen, sieht aus, als wäre er verprügelt worden, als hätte ihn jemand die ganze Nacht um den Block geschleift.«
»Ein Bulle?«
»Nein«, sagte sie. »Irgendein Typ. Ich gehe an ihm vorbei und denke, könnte ein Latino sein: zweifarbige Schuhe, Kreissäge auf dem Kopf, eins dieser kubanischen Hemden – ein richtiger Mambo-King, nur ziemlich durch den Wind. Als hätte er sich am Abend davor rausgeputzt, aber jetzt ist der nächste Morgen da, wissen Sie, was ich meine?«
»Und er saß einfach da?« Langsam schlief mir der Hintern ein, also stand ich auf und holte mir noch ein Glas Leitungswasser.
»So ging es weiter, Madeline. Die Leute verziehen sich, aber der Typ bewegt sich nicht vom Fleck. Er ist nicht festgefroren oder so was, er sitzt einfach nur da – sieht nicht hoch, nichts. Ab und zu denke ich, vielleicht weint er ein bisschen, hat deshalb die Hände vorm Gesicht. Aber ich soll mich ja aus allem raushalten, oder? Also gehe ich einfach an ihm vorbei, hoch und runter, und langweile mich zu Tode, ansonsten ist alles ruhig.«
»Wie lange?«, frage ich.
»Drei verdammte Stunden, Madeline, bis ich es nicht mehr ausgehalten habe. Inzwischen heult er. Mit zuckenden Schultern und allem Drum und Dran.«
»Und Sie haben ihn angesprochen?«
»Ich habe es versucht, nur dass er aufsieht, das Gesicht voll mit Rotz, die Augen rot, und zu mir sagt: ›No hablo inglés‹ , ja? Aber auf der anderen Straßenseite ist eine Bodega, und da gehe ich hin und versuche, jemand zu finden, der zweisprachig ist und mir vielleicht mit dem Kerl helfen kann.«
Ich trinke einen Schluck. »M-hm …«
»Und da ist so ein kleiner Junge, zwölf vielleicht, der ein bisschen Englisch spricht. Den schleppe ich also rüber zu dem Typen auf der Straße und sage: ›Frag ihn, was er hat‹, und der Kleine sagt blablabla und der Typ antwortet
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