Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
tun.«
»Skwarecki, zwingen Sie mich etwa, Ihnen Schuldgefühle zu machen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Dass ich wenigstens was vorweisen will, wenn ich mich schon überfahren lasse, okay? Wegen des verdammten Schuhs war ich heute Morgen überhaupt da draußen.«
Die Kleinigkeit, dass ich Ewigkeiten da draußen rumgestanden hatte, weil ich auf Skwarecki warten musste, ließ ich weg.
»Natürlich gehe ich auf den Friedhof«, sagte sie mit aufgesetzt tröstender Stimme. »Sobald Sie versorgt sind.«
»Und so lange stehen Sie hier rum, weil Sie sehen wollen, ob ich heule, wenn sie mir die Knochen einrenken, damit Sie mich später damit aufziehen können?«
»Ach ja? Als würden Sie nicht schon längst heulen.«
»Sie können mich mal. Die Frau kommt ’ne Stunde zu spät und bringt nicht mal Doughnuts mit?«
»Auf dem Revier war die Hölle los. Wir müssen Ihnen einen Piepser besorgen oder so was.«
»Ja, der hätte vielleicht den Aufprall gedämpft.«
»Verdammt, wenn ich gewusst hätte …«
»Sie haben mich ja nicht persönlich umgefahren, Skwarecki. Und ich bin verdammt froh, dass Sie noch aufgetaucht sind. Aber es wäre mir trotzdem lieber, wenn ich hier nicht Ihren Vorbau anstarren müsste und Sie sich endlich auf die Suche nach dem verdammten Schuh machen würden.«
»Was haben Sie vor, mit dem Taxi nach Hause fahren?«
»U-Bahn«, sagte ich.
»Das glaube ich weniger.«
»Versuchen Sie, mich aufzuhalten.«
»Soll ich ihren gesunden Arm hier an die Trage ketten, Madeline? Sieht nicht aus, als würden Sie allzu bald durch ein Drehkreuz flitzen. In Unterwäsche.«
»Schön. Ich rufe meinen Mann an. Er kann heute früher nach Hause kommen.«
»Er ist bei der Arbeit?«
»Ja. New Jersey.«
»Hat er ein Auto?«, fragte sie.
»Vielleicht kann er sich eins borgen.«
»Am besten fährt er gleich los. Was ist seine Nummer?«
Ich diktierte sie ihr. »Und sagen Sie ihm, er soll mir eine Hose mitbringen, okay?«
»Ich habe eine Jogginghose im Auto.«
»Toll«, sagte ich und wartete ab, bis ihre Schritte in dem lauten Flur verhallt waren, bevor ich vor Schmerzen die Augen schloss und wirklich zu weinen anfing, wovon alles nur noch mehr wehtat. Außerdem lief mir die Nase davon, und ich wollte den Rotz nicht an der Decke abwischen.
»Hier ist ein Taschentuch«, sagte Skwarecki und beugte sich in mein Gesichtsfeld, um mir sanft ein Kleenex unter die Nase zu drücken.
»Na toll«, sagte ich, »Sie sind noch da?«
»Halten Sie die Klappe und schnäuzen Sie.«
»Nicht, solange Sie mir nicht versprechen, dass Sie diesen Schuh suchen gehen … mit jemandem, der Ihnen Rückendeckung gibt.«
»Oder was? Sie rotzen mich zu Tode?«
»Verdammt richtig.«
36
Drei Stunden später hatte ich eine schicke Schiene und den Arm in der Schlinge, sieben Stiche in einem frisch rasierten Oval am Kopf, ein leuchtendes Veilchen und den Bauch voller Schmerzmittel.
Skwarecki war weg, und ich lag wieder auf meiner Transportliege in der Notaufnahme und wartete auf Dean, der mich mit Christophers Jeep abholen würde. Ich spürte nichts bis auf einen samtigen Betäubungsschleier, der sich um und durch meinen ganzen Körper zog.
Ich trug Polizeijogginghosen und ein Krankenhausnachthemd. Die Schwester hatte ein Kissen unter den verletzten Arm gestopft, damit die Schwellung abklang, und sie erklärte mir, dass ich deswegen mindestens vierundzwanzig Stunden lang warten müsse, bis ich einen richtigen Gips bekäme.
Meine geschwollenen blauen Finger, die wie dicke Frühstückswürstchen aus der Schienenkonstruktion ragten, waren der sichtbare Beweis für ihre These.
Doch es war mir egal. Ich war dermaßen zugedröhnt, dass ich ehrfürchtig die Schönheit jeder Person bewunderte, die das Schicksal zu mir in die Notaufnahme verbannt hatte: Dr. Haarigs, aller Schwestern, des kleinen Jungen, der im Bett neben mir in eine grüne Plastikpfanne kotzte, selbst des obdachlos aussehenden Kerls, dem Blut aus der platt gedrückten Nase schoss.
»Bunny?«
Ich sah hoch ins markante Gesicht meines Mannes und lächelte. »Es ist so schön, dich zu sehen!«
»Was ist passiert?«
»Ich wurde angefahren«, sagte ich.
»Ich weiß. Deine Freundin Skwarecki hat es am Telefon erzählt. Wie geht es dir?«
»Es geht mir gut. Richtig gut.«
»Dann hast du richtig gute Medikamente bekommen.«
»Mhm. Ja. Richtig gute.«
»Ich will dich nicht runterholen«, sagte er, »aber du siehst aus, als wärst du verprügelt worden.«
»Ich habe mich mit
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