Der Junge, den niemand sah: Kriminalroman (German Edition)
hört.« Sie hustete ins Telefon.
»Willst du herkommen und hier übernachten?«
»Schon gut. Ich muss nur nächste Woche vor Gericht.«
»Wenn du willst, komme ich und hole dich ab. Wirklich.«
»Ich melde mich später«, sagte sie und legte auf.
Ich starrte den schweigenden Hörer in meiner Hand an und wollte einerseits die Polizei zu ihr schicken, andererseits war ich mir nicht sicher, ob ich ihr ein Wort glaubte.
Dean schlurfte ins Wohnzimmer und rieb sich die Augen. »Wer war das?«
»Astrid.«
Er gähnte. »Was wollte sie?«
»Sie sagt, Christoph hat sie heute in der Firma die Treppe runtergestoßen, nachdem wir weg waren.«
Er setzte sich zu meinen Füßen auf die Couch. »Mit Absicht?«
»Sie hat gesagt, sie hat die Polizei gerufen.«
»Hast du mit ihm geredet?«
»Ist das dein Ernst?«
»Aber Astrid geht es gut?«
»Ich glaube schon. Ich meine, sie klang nicht, als würde sie verbluten oder so. Sie sagte, sie ruft noch mal an, und dann hat sie einfach aufgelegt.«
»Ich will keine falschen Anschuldigungen machen«, sagte Dean, »aber Christoph wirkt auf mich nicht wie der Typ, der so was macht.«
»Ich weiß, aber trotzdem.«
»Verrücktes Huhn«, sagte er kopfschüttelnd.
»Nein, ich glaube einfach nicht, dass sie sich so was ausdenkt. Scheiße, Dean – was zum Teufel soll ich machen?«
»Du kannst nicht viel machen. Außer ins Bett kommen und ein bisschen schlafen.«
»Meinst du wirklich?«
»Ich glaube, morgen früh sieht die Sache schon ganz anders aus.«
Dean stand auf und zog mich auf die Füße.
»Lass gut sein«, sagte er. »Es ist nach Mitternacht. Ruf sie morgen früh an.«
»Na gut, aber versprich mir, dass du mich von der Arbeit anrufst.«
»Hiermit schwöre ich, dir sofort zu berichten, ob Christoph sich wie ein durchgedrehter Frauenschläger aufführt oder nicht, mit oder ohne Schaum vor dem Mund.«
Ich trabte hinter ihm her. »Gleich als Erstes?«
»Ich schwöre.«
»Dean, es tut mir leid, dass ich heute so ätzend war.«
»Schon gut. Wahrscheinlich kriegst du deine Tage.«
Ich boxte ihn gegen den Arm. »Blödmann.«
»Auf den du stehst«, flüsterte er, »das weißt du.«
Am nächsten Morgen rief ich dreimal bei Astrid an, bevor ich mich auf den Weg zur Arbeit machte, aber es antwortete niemand.
Nachdem ich darüber geschlafen hatte, kam mir das Ganze unwirklich vor. Nicht nur Astrids mitternächtlicher Anruf, sondern auch Taliaferros Unverschämtheiten, Christophs Nazi-Sprüche und, um den Vogel abzuschießen, mein Parkplatzstreit mit Dean.
Ich zog den Mantel an, was mit dem Gips immer noch mühsam war, und überlegte, ob ich noch einmal versuchen sollte, sie anzurufen, bevor ich ging.
Vielleicht schlief sie nur länger.
Warum auch nicht? Sie hat schließlich keinen Job, bei dem sie erwartet wird.
Trotz allem hatte ich ein leichtes Unbehagen im Bauch.
Vielleicht ist sie tot. Wie würdest du dich dann fühlen, Maddie Dare?
Also ging ich ins Wohnzimmer zurück und tippte noch einmal ihre Nummer.
Wieder meldete sich der Anrufbeantworter, und ihre Stimme sagte: »Hier ist der Anschluss von Astrid und Christoph. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Pfeifton.«
»Astrid, ich bin’s, Maddie. Ich wollte nur hören, wie es dir heute Morgen geht. Ruf mich bei der Arbeit an.«
Ich wollte ihr gerade die Telefonnummer beim Catalog geben, als sie verschlafen ans Telefon ging.
»Hey«, sagte ich. »Geht es dir gut? Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Maddie«, sagte sie hustend. »Wie viel Uhr ist es?«
»Früh.«
Ich hörte das Klicken eines Feuerzeugs. »Du hast mich geweckt.«
»Tut mir leid. Ich wollte nur wissen, ob es dir gutgeht, bevor ich zur Arbeit gehe.«
»Alles in Ordnung«, sagte sie. »Wirklich. Ich brauche nur mehr Schlaf.«
»Na gut. Ich lass dich in Ruhe. Ruf später an.«
»Ja. Klar.«
Sie hustete wieder und legte auf.
In der Arbeit war diese Woche die Hölle los: Wegen Weihnachten brummten die Leitungen, und pünktlich jede Stunde kam Betty vorbeigerannt, um der Redaktion ins Handwerk zu pfuschen, und kreischte herum, was für ein fauler, inkompetenter Haufen wir alle seien.
Irgendwann schaffte sie es, sogar Yumiko zum Heulen zu bringen, auch wenn Yumiko eine Minute später wieder auf knallhart machte und schwor, es habe nichts mit dem Geschrei der verrückten einarmigen weißen Schlampe zutun, sondern sie habe einen Splitter abbekommen, als Betty sie mit dem Tacker verfehlt und stattdessen eine frische Kanne Kaffee getroffen
Weitere Kostenlose Bücher