Der Junge, der Anne Frank liebte
jetzt ist es das.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche und putzte ihre süße, operativ korrigierte Nase. »Hitler hat eine Jüdin aus mir gemacht.«
Was für ein Zusammentreffen, hätte ich am liebsten laut in die Nacht geschrien und all jene friedlich schlummernden Nachbarn geweckt. Dasselbe hat er mit mir getan.
7. Januar 1941: Juden dürfen keine Kinos mehr besuchen.
15. April 1941: Juden müssen ihre Rundfunkempfänger abgeben.
31. Mai 1941: Juden dürfen kein Schwimmbad und keine öffentlichen Parks mehr benutzen.
15. September 1941: Juden dürfen keine Zoos, Cafés,
Restaurants, Hotels, Pensionen, Theater, Kabaretts, Konzerte, Bibliotheken und Lesesäle mehr besuchen.
23. Januar 1942: Juden dürfen keine Motorräder mehr benutzen.
29. Mai 1942: Juden dürfen nicht mehr angeln.
6. Juli 1942: Juden dürfen keine Telefone benutzen.
Er hat aus uns allen Juden gemacht, den gläubigen und den zweifelnden, den religiösen und den säkularen, aus den Menschen mit zwei jüdischen Elternteilen und folglich vier jüdischen Großeltern, also den hundertprozentigen, bis zu jenen, in deren Adern nur ein dünnes Rinnsal jüdischen Bluts von irgendeinem halbvergessenen Vorfahren floß. Aber hier in Amerika war alles anders. Hier konnte man so tun, als gehöre man zu den Fettaugen auf der Suppe. Hier konnte ein Mädchen, dessen schimmerndes Haar nie kahl geschoren, dessen zartes Fleisch nie tätowiert, dessen blasser, gepflegter Körper nie in den Dreck geworfen worden war, um einem Offizier als Trittfläche zu dienen, damit er sich nicht die frisch polierten Stiefel schmutzig machte, einfach behaupten, Hitler hätte aus ihr ebenfalls eine Jüdin gemacht. Während ich da auf dieser geputzten Straße stand und ihr nachschaute, wie sie sich von mir entfernte, glaubte ich endlich an das auserwählte Volk. Aber es waren nicht die Juden.
Ihre Schwester Madeleine rief mich am nächsten Tag an. Ich hatte nie mit ihr telefoniert oder wenn, dann hatte ich nach Susannah gefragt, und Madeleines Stimme war mir nie aufgefallen. Sie war so dick und füllig wie Schokolade, nicht die amerikanische Schokolade von Hershey Bars and Kisses, sondern eine dunklere, reichhaltigere Substanz, an die sich meine Geschmacksnerven aus meiner Kindheit zu erinnern meinten, aus einer fernen, damals noch sicheren Kindheit. Sie sagte, daß ich, wenn es mir nur halb so schlecht ginge wie Susannah, ein bißchen Aufmunterung brauchen könne, und schlug vor, sie würde mit mir ausgehen und mich betrunken machen. Es war nicht gerade ein Vorschlag, den man von einem netten Mädchen erwarten würde, und ich war überrascht und ein wenig gekränkt, aber ich vergab ihr. Ich begann schon damit, die Gefolgschaft zu übertragen. Eigentlich mußte ich sie noch nicht einmal übertragen. Schon am ersten Abend, als Susannah mich mit zu sich nach Hause nahm, hatte ich mich in die ganze Familie verliebt. Sogar noch davor. Ich war ihnen verfallen, seit ich an jenem Morgen ihr Lächeln in der Zollhalle gesehen hatte, egal, was sie später sagte, als ich mir die Familie vorgestellt hatte, die sie in all diesen Jahren angelächelt hatte.
Madeleine und ich heirateten im Sommer darauf, direkt nach ihrem Abschlußexamen. Es war ihr gleichgültig, daß ich kein Jude war. Hitler, sagte sie, habe eine Atheistin aus ihr gemacht.
Was das Geheimnis in meiner Hose betraf, hatte ich recht mit der Annahme, daß ein nettes Mädchen nichts wußte. Wir waren schon drei Monate verheiratet, als sie entdeckte, daß ich beschnitten war. Bis dahin wußte ich bereits, daß in Amerika, anders als in Europa, auch manche Nichtjuden beschnitten waren. Ich erzählte ihr, meine Eltern wären auf ihrer Hochzeitsreise in Amerika gewesen, und weil ich hier empfangen worden war, hätten sie beschlossen, den örtlichen Gepflogenheiten ihren Tribut zu zollen. Ich hatte nie über meinen Vater oder meine Mutter gesprochen, und diese Geschichte gefiel ihr.
»Sag Madeleine, ich werde sie morgen anrufen«, sagte Susannah nun. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um mir einen Abschiedskuß auf die Wange zu geben, und plötzlich wußte ich die Antwort auf meine vergebliche Frage.
Wenn ich sie geheiratet hätte, statt ihrer Schwester, mit der sie in einer lebenslangen, liebevollen Rivalität verbunden war, wäre der Unterschied nur gering gewesen. Das heißt aber nicht, daß ich meine Frau nicht liebte.
SECHS
Es wäre furchtbar, wenn mein Tagebuch
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