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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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wer ich war und woher ich kam, oder auch nicht. Ich würde mich entweder ertappt oder abgelehnt fühlen. Aber der Mann von der Abendschule hatte gesagt, es würden Mädchen da sein. Jede Menge Mädchen.
     Ich bahnte mir einen Weg in den Raum. Es war, wie in einen Traum von Reichtum und Fülle einzutauchen. Um mich herum schimmernde Haare, flatternde Wimpern und Zungen, die sich zwischen geschminkten Lippen spitzten. Es war so voll, daß ich mich kaum bewegen konnte, ohne mit einer süßen geschwungenen Hüfte zu kollidieren oder dem Blick auf junge Brüste ausweichen zu müssen. Ich hatte das Gefühl, als würde ich ertrinken. Und dann sah ich sie.
     Ich erkannte sie sofort. Sie war das Mädchen aus der Zollhalle, obwohl ich es ihr nicht sagte. Ich wollte als Mann von Welt gelten, nicht als ein Immigrant von einem Schiff.
     »Weißt du, was ich dachte, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe?« würde sie mich später fragen, als wir uns auf dem Goldbrokatsofa im Wohnzimmer ihrer Eltern balgten. Wir waren so sicher, eine Zukunft zu haben, daß wir uns schon eine Vergangenheit bauten.
     »Was?« keuchte ich, verwirrt ob der Aufdringlichkeit des Verräters in meiner Hose.
     »Daß du anders bist.«
     Ich sagte ihr nicht, daß ich gar nicht anders sein wollte. Wenn sie es auf diese Art aussprach, konnte mir das nur recht sein. Aber ich erwähnte noch immer nicht, daß ich sie in der Zollhalle gesehen hatte. Anders war in Ordnung, von mir aus, alles, nur kein Greenie. Greenie war der Todesstoß, dachte ich damals.
     Um uns herum verliebten sich alle Leute. Immer verlieben sich alle Leute, aber hier taten sie es auf eine andere Art und Weise. Während des Krieges hatten sie sich verliebt, weil es kein Morgen gab. Jetzt verliebten sie sich nicht nur, weil es ein Morgen gab, sondern auch ein nächstes Jahr und ein übernächstes.
     Wir saßen in dunklen Kinosälen, ihre weichen Schultern paßten gut unter die Biegung meines Arms, mein graues Flanellknie – ich habe ja schon gesagt, Kleidung ist die beste Methode, um sich zu tarnen – preßte sich gegen ihre Nylonstrumpfhose. Wir gingen durch die Straßen, unsere Finger ineinander verschränkt zu einem aufbruchsicheren Schloß gegen die übrige Welt. Wir verkapselten uns in den schalldichten Boxen von Plattengeschäften und hörten uns die neuesten Langspielplatten an, sie schwor auf Beethoven und schnalzte mit den Fingern zu Stan Getz, der mit der Woody Herman Band spielte, während ich ihr die Magie erklärte, die hinter dreiunddreißig Umdrehungen pro Minute steckte. Wir taten Dinge, die sie nie zuvor getan hatte, und fühlten Dinge, von denen wir sicher waren, daß kein anderer auf der Welt sie je gefühlt hatte, und wir flüsterten gegenseitig unsere Namen und oh und ja und bitte, und schließlich, weil sie ein nettes Mädchen war und das bleiben wollte, bis sie heiratete, auch nein.
      Vater sagt, in diesen Sachen übernimmt der Mann immer die aktive Rolle und die Frau muß die Grenzen setzen.
     Ich war nun froh, daß sie nein gesagt hatte. Ich weiß, es gibt Menschen, für die die Vorstellung, mit zwei Schwestern zu schlafen, reizvoll ist, aber ich gehöre nicht dazu. Für mich wäre das einfach zu chaotisch gewesen.
     Eines Sonntags fuhren wir nach New Jersey, in dem 39er Chevy, den Harry mir verkauft hatte, nachdem er dem Händler ein paar hundert Dollar unter dem Tisch zugeschoben hatte, um einen neuen zu bekommen, frisch vom Fließband. Ich wollte Susannah die Häuser zeigen, die ich baute.
     Als wir die schlammige Baustelle hinauffuhren, die gespickt war mit rohen Holzverschalungen, die aus der zerfurchten Erde ragten, stieß sie einen kleinen Schrei aus. Ich fragte sie, was los sei. Sie sagte, die Szene erinnere sie an die Fotos von zerbombten Städten, die noch immer wöchentlich die Ausgaben des Life füllten. Ich hätte damals wissen müssen, was mir bevorstand. Mein Mädchen leistete sich keine dieser Lassen-wir-den-Krieg-hinter-uns-und-leben-wir-Wertlosigkeiten. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß jene Skelette Zerstörung bedeuteten, diese hier aber Aufbau.
     Einmal waren wir über Planken balanciert, die in den Matsch gelegt worden waren, und standen dann unter einem unfertigen Dach, durch das man einen metallischen Himmel sah, allein in der halben Privatsphäre einer Nullachtfünfzehn-Wohnung. Da wandte sie sich von dem wolkenverhangenen Frühlingsnachmittag ab und einer rosigen Zukunft zu.
     »Das Sofa kommt dorthin«, sagte sie und

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