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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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verlorenginge,
    Anne Frank, zitiert in
    The Stolen Legacy of Anne Frank.
    Meyer Levin, Lillian Hellman and
    the Staging of the Diary
    von Ralph Melnick

    Dr. Gabor erkundigte sich selten nach meiner Stimme, aber an diesem Abend erkundigte er sich: »Haben Sie überhaupt irgendeinen Fortschritt bemerkt?«
     Sie sind der Doktor, wollte ich sagen, Sie müßten es doch wissen. Ich kam nun schon seit einem Monat zweimal in der Woche zu ihm, ich saß in der Dämmerung, starrte den Wirrwarr auf seinem Schreibtisch an, beantwortete seine blöden Fragen, so gut ich konnte, und bezahlte fünfzehn Dollar die Stunde für dieses Vergnügen. Ich hatte langsam genug davon.
     »Ein bißchen«, log ich.
     Er lehnte sich in seinem großen Stuhl zurück, der ihn kleiner aussehen ließ, und knöpfte sein Jackett oder irgendein anderes seiner adretten Kleidungsstücke auf. Das schwache Licht der Lampe auf seinem Schreibtisch ließ die goldene Kette auf seiner Weste aufleuchten. Wenn er sich zurücklehnte oder vorbeugte, bewegten sich die Reflexe hin und her.
     »Es gibt da etwas, was ich Ihnen geben kann…«, fing er an.
     Ich traute meinen Ohren nicht. Der Mann war verrückt. Schlimmer als das, ein Scharlatan. Er hatte einen Monat meines Lebens damit vergeudet, mich nach Dingen zu fragen, die nichts mit meiner Stimme zu tun hatten, während er doch nichts anderes zu tun gehabt hätte, als mir etwas zu verschreiben, damit ich wieder sprechen konnte. Am liebsten hätte ich Die Bürger von Calais ergriffen und ihm an den Kopf geworfen. Aber ich schaffte es, meine Stimme ruhig zu halten. Ich hatte zwar seit jenem Tag der psychologischen Begutachtung in dem ehemaligen Büro der SS-Offiziere eine beträchtliche Menge Geld verdient, doch Ärger war noch immer ein Luxus, den ich mir nicht erlaubte.
     »Worauf warten Sie?« fragte ich.
     »Es ist ein einfaches Verfahren. Ich verabreiche Ihnen eine kleine Dosis von Sodium Amytal. Unter dem Einfluß dieses Stoffes werden Sie normal sprechen können. Sie werden auch anfangen, sich an die Ereignisse zu erinnern, die zum Verlust Ihrer Stimme geführt haben.«
     »Sie meinen eine Wahrheitsdroge?«
     »Eine unglückliche Bezeichnung.«
     Unglücklich, Doktor, aber präzise. Verdammt präzise. Sie wollen mir etwas in die Vene injizieren, das mich zum Sprechen bringt.
     »Da gibt es nichts, wovor man sich fürchten müßte«, sagte er.
     Woher, zum Teufel, wollen Sie das wissen?
     »Die Behandlung hat sich in Fällen wie Ihrem bewährt.«
     In Fällen wie meinem? Es gibt keine Fälle wie meine, Doktor, oder nur eine Handvoll. Das ist es, was Sie nicht in Ihren gottverdammten glanzledernen Kopf kriegen. Ich bin nicht einer von Millionen, die da hineingerieten. Ich bin einer der wenigen, die es überstanden haben. Wie erklären Sie das? Wie rechtfertigen Sie das?
     Ich holte ein Taschentuch aus meiner Tasche und wischte mir den Schweiß ab, der sich auf meiner Oberlippe gebildet hatte. Ich rückte meinen Stuhl ein paar Zentimeter zurück. Ich brauchte Platz, um meine Beine auszustrecken. Er beobachtete mich mit diesem eulenhaften Starren, aber ich konnte ihn nicht anschauen. Mein Blick irrte im Zimmer umher, suchte nach etwas, woran er sich festhalten konnte. Ich fühlte, wie sich die Schlingen der Bürger von Calais um meinen Hals zuzogen. In diesem Moment sah ich es. Es lag auf einem niedrigen Bücherregal hinter seinem Schreibtisch. Ich weiß nicht, wie ich es vorher hatte übersehen können, doch dann verstand ich nicht, wie ich es damals, in jener Nacht, als Madeleine das Buch von ihrem Nachttisch nahm und ich meine Stimme verlor, aus meinem Gedächtnis hatte löschen können. Es war das gleiche Buch. Da war ich mir sicher, obwohl ich nicht verstand, daß es überhaupt existierte.
     Der Schutzumschlag war in einem rostigen Rot, der Farbe getrockneten Bluts. Ihr Foto bedeckte die halbe Seite. Die großen Augen starrten mich an. Sie waren schwarz vor Anklage. Der volle Mund war starr. Was drückte er aus? Eine Verurteilung? Das Gesicht war klein, die Schultern schmal und unglaublich zart. Ich hatte vergessen, daß sie ein Kind war. Sie würde nie etwas anderes sein.
     Wie war das möglich? Sie war tot. Alle waren tot, alle außer Otto. Ich wußte das von den Listen des Roten Kreuzes. Ich war der einzige, von dem es keine Nachricht gab.
     Ihr Name stand unter dem Foto. Kühne weiße Buchstaben in einem schwarzen Kasten, gerade und schmal wie ein Sarg.
     ANNE FRANK Darunter stand der

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