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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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Brief vom Tisch und hielt ihn mir hin, damit ich ihn las. »Herbstgasse 11, Basel, Schweiz.«
     Ich nahm das Blatt. »Lieber Herr Frank!« Meine Augen glitten über die Seite. Der Brief war höflich, sogar ehrerbietig. Sie sei sicher, daß Herr Frank nichts von der Sache wisse. Sie sei sicher, er würde sonst nicht erlauben, daß dieses Sakrileg am Andenken seiner Tochter fortgesetzt würde. Sie versicherte ihm, daß das Tagebuch seiner Tochter einen Platz in ihrem Herzen und ihrem Bewußtsein erobert hatte. Ich erreichte die Unterschrift.

    Hochachtungsvoll,
Madeleine van Pels
(Ehefrau von Peter van Pels)
     Meine Schwiegermutter, Emily Post aus New Jersey, hatte ihre Töchter gut erzogen. Bei aller rebellischen Aufsässigkeit meiner Frau würde sie keinen Brief unterzeichnen, ohne unter ihrem Namen den Namen ihres Ehemanns anzugeben, ebensowenig wie sie sich bei einem festlichen Dinner die Nase in die Servietten putzen oder ohne Handschuhe ins Theater gehen würde.
     Das konnte ich nicht zulassen. Als Otto mich als seinen Sohn bezeichnete, wollte ich einen Vater. Aber jetzt konnte ich keinen Vater ertragen, zumindest keinen wie Otto, der ein Sklave der Vergangenheit war. Wäre mein Vater am Leben, wäre das etwas anderes. Ich hätte ihm nie den Rücken zugekehrt. Das schwöre ich. Man kann einen Menschen nicht danach beurteilen, wie er sich auf einer Rampe verhält mit Hunden, die nach seinen Beinen schnappen, und SSOffizieren, die ihm auf den Kopf schlagen, oder bei einer Arbeitskolonne im Fadenkreuz vom Gewehr eines Lagerbewachers. Aber Otto war nicht mein Vater. Ich bewunderte ihn. Er tat mir leid. Aber ich würde ihn auf seiner sentimentalen Reise in die Vergangenheit nicht begleiten. Ich weigerte mich, über diese Stufen in eine Welt der Dunkelheit zu kriechen. Ich lehnte es ab, mich und meine Familie für seine Erinnerungen aufs Spiel zu setzen.
     »Du hast doch nicht wirklich vor, das hier wegzuschicken.«
     »Warum nicht?«
     »Weil es grausam ist.«
     »Man muß es ihm sagen. Ich bin sicher, er will es wissen. Ich an seiner Stelle würde jedenfalls.«
     Da war es wieder, dieses unbekümmerte Vertrauen in die Macht der Empathie.
     »Du glaubst, daß Otto Frank es nicht weiß? Du glaubst, daß der Mann, der diesen Artikel geschrieben hat, es weiß, und die Leute, die diese Briefaktion organisieren, es wissen, und du und ich, aber daß der Vater des Mädchens, das das Tagebuch geschrieben hat, es nicht weiß?«
     »Ich kann nicht glauben, daß er es erlauben würde, wenn er es wüßte.«
     Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht wußte Otto es nicht. Oder vielleicht wußte er es und hatte noch immer nichts gelernt. Als der Mann von der Grünen Polizei gekommen war, um uns abzuholen, und die alte Feldkiste aus dem Ersten Weltkrieg mit Ottos Namen und seinem Rang in der deutschen Armee sah, hatte er förmlich die Hacken zusammengeschlagen, und auf Ottos Gesicht war ein Ausdruck der Erleichterung erschienen. Das war ihm vertraut. Das war das Deutschland, das er kannte. Ein paar Minuten später schoben sie uns die Treppe hinunter in den wartenden Lastwagen.
     »Vielleicht kann er gar nichts tun. Solche Sachen werden vertraglich geregelt. Rechte werden gekauft und verkauft wie Grundstücke. Wenn ich ein Haus verkaufe, kann ich den neuen Besitzer nicht daran hindern, es in einer häßlichen Farbe anzustreichen und häßliche Anbauten anzubringen. Wenn dieser Mann, von dem du sagst, er heißt Otto Frank, die Rechte an dem Stück verkauft hat, wird er wahrscheinlich keinen Einfluß darauf haben, wer darin mitspielt.«
     Sie starrte mich an. Die Farbe wich aus ihren Wangen. Sie biß sich auf die Unterlippe. Sie ist sehr weichherzig, meine Frau.
     »Glaubst du wirklich?«
     »Ich glaube, daß es für ihn, wenn er es nicht weiß und nun herausfindet, daß er nichts tun kann, eine Tortur sein wird. Mehr als eine Tortur. Wenn andere ihn quälen wollen, sollen sie es tun. Aber ich denke, du solltest dich nicht daran beteiligen.«
     »So habe ich es nie gesehen.«
     »Aber jetzt tust du es.« Ich riß den Brief, den ich noch in der Hand hielt, mitten auseinander. Sie zuckte bei dem Geräusch zusammen, protestierte aber nicht.
     Meine Frau schickte keinen einzigen der Briefe ab, die sie so wütend getippt hatte, obwohl sie das nicht wußte. Sie gab mir die Briefe am nächsten Morgen mit. Ich nahm die ordentlich adressierten Umschläge in Empfang und legte sie neben mich auf den Beifahrersitz. Ein paar Minuten

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