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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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Löffelbiskuits zu gießen, die sie im Supermarkt gekauft hatte, und das Ganze dann für ein paar Stunden in den Kühlschrank zu stellen. Es schmeckte ziemlich gut, trotzdem war es nicht das, was ich als richtigen Kuchen bezeichnet hätte. Aber vielleicht bin ich ja auch verwöhnt durch Jahre der Mangelernährung und zuviel Phantasie. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der Essen der Stoff für Geschichten war, der Stoff für Mythen. Der Sandkuchen meiner Mutter, flüsterten wir einander zu, der Strudel meiner Oma, das Gulasch meiner Frau… und das Wasser lief uns im Mund zusammen, und Tränen stiegen uns in die Augen, obwohl wir nicht nur fast verhungert, sondern auch ausgetrocknet waren. Wer weiß, woher diese Sekretionen kamen.
     »Warum sagst du, daß ich den Film nicht sehen will?«
     »Wegen deiner Reaktion auf das Theaterstück.«
     »Ich habe nicht auf das Stück reagiert. Ich habe es noch nicht mal gesehen.«
     Sie antwortete nicht sofort. Sie hatte Schwierigkeiten, die Löffelbiskuits rund um den Springformrand aufzustellen.
     »Um die Wahrheit zu sagen«, sagte sie, als sie das letzte Stück Biskuit an die richtige Stelle zwängte – ich hasse diese Formulierung, warum sollte man einen Satz mit der Versicherung anfangen, daß man vorhat, die Wahrheit zu sagen –, »ich bin noch nicht mal sicher, ob ich den Film sehen will. Aber ich werde hingehen.«
     »Warum willst du in einen Film gehen, den du nicht sehen willst?«
     Sie nahm den Topf mit der geschmolzenen Schokolade von der Herdplatte und begann, den Inhalt über die Biskuits zu kippen und mit dem Löffel zu verteilen. »Es ist eine moralische Verpflichtung«, sagte sie.
     »Eine moralische Verpflichtung?«
     Sie schaute von ihrem Pseudokuchen auf. »Leute wie ich, denen es so gutgeht, haben nicht das Recht, die Augen zu schließen.«
     Ich hätte besser meinen Mund gehalten. Darauf war ich sonst doch so stolz. Und wenn schon, hätte ich sagen können, sie solle nicht so blöd sein; sich einen Film anzuschauen, habe nichts mit Moral zu tun. Aber die Überzeugung, die in ihren Augen brannte, als sie davon sprach, daß man sie nicht schließen dürfe, reizte mich. Ich weiß nicht, warum, schließlich hatte ich sie wegen ihrer Blindheit geheiratet.
     »Im D.-P.-Lager hatte ich eine Weile im Krankenhaus zu arbeiten.«
     Sie stand da, ihre Hand mit dem Topf schwebte in der Luft, und ihre Augen waren nicht auf einen fernen moralischen Imperativ gerichtet, sondern auf mich. Ich sprach nie über meine Vergangenheit, da wollte sie kein einziges Wort verpassen.
     »Da war ein Mann, sein halbes Gesicht war weggerissen. Ich glaube, er war auf eine Mine getreten.«
     Ich sah, wie sie zurückzuckte. Ich hätte wirklich aufhören müssen.
     »Zumindest war das die Geschichte. Wer wußte schon, was unter den Verbänden war? Sein Kopf war vollkommen verbunden. Es gab nur die zwei Öffnungen für die Augen. Seine Augen waren in Ordnung. Bis auf die Lider. Er hatte keine Augenlider.«
     Ein Tropfen Schokolade landete auf der Anrichte. Sie stellte den Topf ab, und ich ermahnte mich innerlich, endlich aufzuhören.
     »Ohne Augenlider«, fuhr ich fort, »konnte er die Augen nicht zumachen. Natürlich nicht.«
     Sie starrte mich noch immer an. Sie hatte keine Ahnung, worauf ich hinauswollte. Woher auch.
     »Weißt du, was passiert, wenn man seine Augen nicht schließen kann?«
     »Man kann nicht schlafen?«
     »Nein, man schläft mit offenen Augen. Das tun viele.« Ich hatte lange genug in Baracken gelebt, um das zu wissen. »Wenn du keine Augenlider hast, kannst du nicht aufhören zu weinen. Wenn du deine Augen nicht zumachen kannst, weinst du die ganze Zeit.«
     Diesmal entschuldigte ich mich nicht. Ich war zu wütend. Sie hatte mich dazu gebracht, mein Schweigegelübde zu brechen. Für einen Mann wie mich ist die einzige Ehre, die ihm geblieben ist, die einzige Form des Anstands, andere vor dem Horror zu beschützen.

    Madeleine sprach nicht über den Film, als sie nach Hause kam, obwohl ich wußte, daß sie darüber nachdachte. Ein paar Tage lang lief sie durch die gepolsterten und polierten Räume unseres Hauses mit einer Miene sanfter Zerstreutheit. Es war mehr als die Sorge um diese armen Schweine, die sie auf der Leinwand dargestellt gesehen hatte. Es war Sehnsucht. Sie wollte wissen, wie es ist, eine Zeitlang zu leiden.
     Meine Frau hatte den Film in einem großen Kino in einem neuen Einkaufszentrum gesehen, ein paar Minuten von Indian Hills

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