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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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gewonnen. Jeden Abend stolpert Otto Frank überall in Amerika auf die Bühne, die zum Hinterhaus geworden war, und entdeckt das Tagebuch seiner Tochter Anne, jeden Abend verlieben sich Peter und Anne ineinander, und jeden Abend stehlen ein Dutzend verschiedene Versionen meines Vaters, groß, klein, dick, dünn, mir das Brot aus dem Mund. Und nicht nur in Amerika, überall auf der Welt. In Amsterdam besuchte die Königin eine Aufführung und war bewegt, und Zuschauer fühlten sich beim Verlassen des Theaters erbaut. Sie waren keine Nazis gewesen. Sie hatten versucht, ihre Juden zu retten. Da spielte es keine Rolle, daß sie von vornherein nur wenige Juden hatten und proportional mehr Juden auslieferten als irgendein anderes Land. In Deutschland drückten Theaterbesucher ihr Entsetzen und ihren Abscheu aus. Hätten sie damals gewußt, was geschah, hätten sie sich dagegen ausgesprochen. Eine Frau war von Annes Notlage so tief betroffen, daß sie darauf bestand, man hätte wenigstens kleinen Jüdinnen das Leben lassen müssen. Andere identifizierten sich mit der Not, die sie auf der Bühne sahen. Schließlich hatten sie ebenfalls unter dem Führer gelitten. Aber ein Theaterstück kann nicht besonders viele Menschen erreichen. Ein Film hat eine ganz andere Breitenwirkung. Hollywood wäre moralisch nachlässig, würde man Annes Tagebuch nicht verfilmen.
     Wohin ich auch kam, überall stieß ich auf Geschichten über den Film. Der Schauspieler Joseph Schildkraut würde seine Rolle als Otto noch einmal übernehmen. Die NaziSchauspielerin würde wieder Frau Frank spielen, sehr zur Empörung meiner Frau und Tausender anderer aufrechter Menschen. Aber es würde eine neue Anne geben. Auch einen neuen Peter, aber das war weniger wichtig. Die Starsuche nach der neuen Anne wurde zu einem großen Ereignis, und überall wurde ausführlich darüber berichtet. Wer war die Glückliche, die das Rennen machen würde? Wer würde das Glück haben, Anne Frank zu sein?
     Das gleiche Komödienschreiberteam, das Pfeffer zu einem dummen Hanswurst und meinen Vater zu einem Dieb gemacht hatte – es tut mir leid, das noch mal zur Sprache zu bringen, aber ich verstehe nicht, wie sie damit durchgekommen sind –, würde das Drehbuch schreiben. Doch der Regisseur, ein Mann namens George Stevens, war bekannt für ernstere Filme. Er war bei den amerikanischen Truppen gewesen, die Dachau befreit hatten, er kannte die Materie, schrieben die Zeitungen. Er stand auch im Ruf, realistisch zu sein. In Fragen der Wahrhaftigkeit spielte Geld für George Stevens und die Herren der 20th Century Fox keine Rolle. Wenn im Film Bomben auf das Hinterhaus fallen, las ich, würde Mr. Stevens nicht gegen die Kamera schlagen, um ein Beben zu erzeugen, wie es die meisten Regisseure wohl tun würden, er habe statt dessen ein spezielles Bühnenbild bauen und mit Stahlfedern auf Holzpfeilern befestigen lassen. Im passenden Moment würden Bühnenarbeiter die Konstruktion schütteln und damit die Schauspieler zu Tode erschrecken. Ich interessierte mich für die Details dieser Konstruktion. Schließlich bin ich Bauunternehmer. Aber ich war nicht überzeugt, daß es den Effekt haben würde wie die Royal Air Force. Mr. Stevens bestand außerdem darauf, daß Shelley Winters, die Schauspielerin, die Frau van Daan spielte, vierzig Pfund zunehmen solle. Ich kann mich nicht erinnern, daß meine Mutter übergewichtig war, doch vielleicht lag das daran, daß wir am Ende alle hungerten. Shelley Winters, berichteten die Zeitungen, mache gute Miene zum bösen Spiel und verhalte sich wirklich professionell. Sie aß sich wie ein Bandwurm in die Rolle meiner Mutter hinein.
     Als Madeleine mir mitteilte, sie würde mit ihrer Schwester in den Film gehen, wußte ich, daß sie meinen Ausbruch an jenem Abend, als sie vom Theaterstück zurückgekommen war, nicht vergessen hatte. Die Frauen nahmen oft den Zug nach New York, um ohne ihre Ehemänner zu einer Nachmittagsvorstellung zu gehen. Ohne uns würden sie nicht ins Kino in unserem Viertel gehen. Würde eine von ihnen das tun, müßte sie schon einen guten Grund dafür haben.
     »Ich weiß, daß du den Film nicht sehen willst.« Sie hielt die Augen gesenkt, als sie das sagte, aber nicht, um meinem Blick auszuweichen, sondern weil sie sich auf den Kuchen konzentrierte, den sie gerade zubereitete. Sie nannte das Backen, obwohl nichts anderes nötig war, als Schokolade flüssig zu machen. Der Trick bestand darin, die Schokolade über

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