Der Junge, der Anne Frank liebte
später, als ich darauf wartete, daß der Tankwart mein Auto auftankte, zerriß ich die Briefe, so wie ich am Abend zuvor den Brief an Otto zerrissen hatte, warf die Hälfte davon in den Abfalleimer der Tankstelle, die andere Hälfte in einen großen Metallmüllcontainer an der Baustelle. Herr Bloomgarden und Herr Kanin und die anderen wußten vielleicht nicht, daß die Leute, die Anne in ihrem Tagebuch van Daan genannt hatte, in Wirklichkeit van Pels hießen. Aber ich wollte kein Risiko eingehen.
Das Stück lief anderthalb Jahre lang. Ich gewöhnte mich daran, daß ich die Plakate sah und die Lobpreisungen von Leuten hörte, die langsamer schalteten als meine Frau und ihre Schwester. Ich gewöhnte mich auch daran, daß ich bei den seltenen Gelegenheiten, wenn ich mich von Madeleine in ein anderes Stück schleppen ließ, im Vorbeigehen die Fotos von Schauspielern in schäbigen Kleidern mit leidenden oder erschrockenen oder lachenden Gesichtern sah, die mich aus den Glasvitrinen im Foyer des Cort Theaters anblickten. Sie hatten, wie schon gesagt, nichts mit mir zu tun. Doch als ich den Artikel in der Zeitung sah, genaugenommen nur eine kurze Nachricht, konnte ich nicht widerstehen. Nicht meinetwegen, sondern wegen der Kinder.
Als ich die Tür des Wohnzimmers aufmachte, schauten meine Töchter vom Fernsehschirm weg, sahen, daß ich eine Schachtel trug, und waren blitzschnell auf den Füßen. Sie rannten zu mir her. David folgte, auf den Fußspitzen schwankend, als wäre er betrunken. Alle drei hingen an mir und versuchten, in die Schachtel zu schauen, und quietschen und schrien. Madeleine hörte den Lärm und kam die Treppe herunter, gerade rechtzeitig, um die Katze aus der Schachtel springen zu sehen.
»Was ist das?« fragte sie.
»Nun, was glaubst du wohl, was das ist?«
Der Kater erkundete nicht vorsichtig die fremde Umgebung, wie die meisten Katzen es getan hätten, sondern lief quer durch den Raum. Er war ein mutiges Exemplar, nicht nur gewöhnt an helles Scheinwerferlicht und lauten Applaus, sondern auch an fremde Menschen. Er sprang mit einem Satz auf das Sofa, lief quer über die Lehne und hüpfte wieder auf den Fußboden. Die Kinder folgten dicht hinter seinem Schwanz.
»Das ist eine Überraschung«, sagte Madeleine.
»Wir haben doch über ein Haustier gesprochen.«
»Wirklich?«
»Natürlich, als die Wieners ihren Pudel angeschafft haben.«
»Das ist über ein Jahr her.«
»Wenn du ihn nicht willst…«, begann ich, und meine Töchter ließen das laute Protestgeschrei los, das ich erwartet hatte.
Madeleine schaute mich an und schüttelte den Kopf. »Glaubst du, ich werde meine Kinder bitten, sich zwischen mir und einem kleinen pelzigen Tier zu entscheiden? Nein, mir gefällt die Idee gut, aber warum hast du kein Kätzchen gebracht?«
»Der hier braucht ein Zuhause.«
»Warum?«
Es gab keinen Grund, ihr nicht die Wahrheit zu sagen. Als Das Tagebuch der Anne Frank abgesetzt wurde, wollten laut einem Artikel in der Zeitung weder die Schauspieler noch einer von den Theaterarbeitern, noch irgend jemand, der etwas mit der Produktion zu tun hatte, die Katze haben, die die Rolle von Mouschi gespielt hatte. Nichts hätte Madeleine besser gefallen als eine Katze mit dieser Herkunft. Ich konnte schon hören, wie sie die Geschichte erzählte: Und weißt du, woher die Katze stammt? Das rätst du nie.
»Einer der Arbeiter hat das Tier zur Baustelle gebracht«, sagte ich. »Es hat sich herausgestellt, daß seine Frau allergisch ist.«
»Ist es ein Mädchen oder ein Junge.«
»Ein Kater. Das heißt, ein Junge.«
Betsy versuchte, die Katze auf den Schoß zu nehmen. »Dürfen wir ihm einen Namen geben?«
»Ihr könnt es versuchen, aber er hat schon einen Namen. Er hört auf Mouschi.«
Beim Klang dieses Namens verließ der Kater Betsy und sprang mir auf den Schoß.
DREIZEHN
Im Menschen ist nun mal ein Drang zur Vernichtung, ein
Drang zum Totschlagen, zum Morden und Wüten.
Anne Frank, Tagebuch,
3. Mai 1944
Wenn alle Menschen in ihrem Herzen gut wären, hätte es nie
wirklich ein Auschwitz gegeben; noch gäbe es irgendeine
Möglichkeit, daß es wiederkehrt.
»The Ignored Lesson of Anne Frank«
von Bruno Bettelheim in Anne Frank.
Reflections on Her Life and Legacy,
hg. von Hyman A. Enzer und Sandra Solotaroff-Enzer
Mir war klar gewesen, daß es einen Film geben würde. Wie hätte es anders sein können? Das Theaterstück hatte den Pulitzer-Preis
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