Der Junge, der Anne Frank liebte
hätten es tun sollen. Mitglieder der Schauspielertruppe bezeugten die starken Emotionen, die sie an sechs Abenden der Woche erlebten, mittwochs und samstags sogar zweimal. Mädchen schnitten Fotos des jungen Mannes aus, der die Rolle von Peter spielte, und hängten sie an ihre Wände, so wie Anne die Fotos von Filmstars und von Mitgliedern der königlichen Familie über ihr Bett gehängt hatte. Wäre Abigail ein paar Jahre älter, würde über ihrem Bett vermutlich auch ein Bild des Jungen hängen, der den Peter darstellen sollte, der ich einmal gewesen war. Ich war auf Schwärmereien für Schauspieler vorbereitet, aber diese andere Begeisterung, diese Hörigkeit, wenn es um Leid und Elend ging, konnte ich niemandem zugestehen. Das mußte ich verhindern.
Madeleine, würde ich sagen.
Ja? würde sie antworten und den Blick nicht von den Tasten heben.
Dieses Stück da.
Hmmm.
Ich bin Peter.
Würde ihr Kopf von der Schreibmaschine auffahren? Würde sie sagen, hör auf, Witze zu machen, das ist kein Thema, über das man Witze macht. Würde sie mir glauben? Und wenn sie es tat, was dann? Würde sie mich an ihre Brust ziehen? Würde sie mein Leid mittragen? Das konnte ich nicht zulassen.
Wieder schaute ich auf die Zeitung und überflog den Rest der Kolumne. Es ging um Gusti Huber, die Schauspielerin, die am Broadway Anne Franks Mutter spielte, genauer, es ging um ihre Karriere, bevor sie nach Amerika gekommen war. Es wurde berichtet, wie sie sich vor dem Krieg, in Wien, geweigert hatte, mit jüdischen Schauspielern und Regisseuren zu arbeiten, und daß sie bis Kriegsende für die Nazis Filme gemacht hatte. »Und genau zu der Zeit, als Anne in BergenBelsen ermordet wurde, trat Gusti als Star einer Filmkomödie mit dem Titel ›Wie ein Dieb in der Nacht‹ auf.«
Das ist noch etwas, was ich an Amerika liebe. Hier war so etwas noch immer eine Neuigkeit.
»Du hast einen Brief an den Redakteur geschrieben?«
Madeleine stand auf, packte die Schreibmaschine in ihren Koffer und ließ die Schlösser zuschnappen. »Etwas mehr als das.« Sie nahm einen der Briefe und hielt ihn mir hin.
Mr. Kermit Bloomgarden
1545 Broadway
New York 36, N. Y.
Bloomgarden war der Produzent des Theaterstücks. Auch das gehörte zu den Informationen, die ich unbewußt aufgeschnappt hatte.
Ich überflog den Brief. Meine Frau und Hunderte weiterer Frauen drohten, das Stück zu boykottieren, wenn Gusti Huber nicht ausgewechselt werden würde.
»Du hast das Stück doch schon gesehen.«
»Das weiß er nicht.«
Ich blickte hinunter auf den Tisch. Er war übersät mit Zeitungen. »An wen schreibst du noch?«
»An den Regisseur. An die Autoren. An den Schauspielerverband. An die Schauspielergewerkschaft.«
Ich schaute über den Tisch hinweg meine Frau an. Ihre Wangen waren gerötet, der Blick ein bißchen wild.
So sah sie aus, nachdem wir uns geliebt hatten. Wieder betrachtete ich den Tisch. Ich konnte nichts Schlimmes an einer Handvoll Briefen an Leute finden, die sie vermutlich nicht einmal lesen würden. Der Produzent und der Regisseur waren berühmt. Die beiden Stückeschreiber hatten mit Drehbüchern über betrunkene Detektive mit kleinem Terrier, die Eheleuten nachspionierten, viel Geld verdient, und über Jimmy Stewart, der sich entschied, am Weihnachtsabend keinen Selbstmord zu begehen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich all diese nutzlosen Details aufgeschnappt hatte. Das Theaterstück über Anne Frank brachte viel Geld ein. Keiner von ihnen würde sich den Teufel darum scheren, ob die Schauspielerin, die im Stück Frau Frank spielte, vor Hitler persönlich aufgetreten war.
»Und Otto Frank.« Die Farbe in Madeleines Wangen flammte auf. Die Hitze der Rechtschaffenheit flackerte in ihren Augen.
»Was?«
»Es ist Teil der Kampagne. Es gibt eine Liste von Menschen, an die man schreiben muß. Anne Franks Vater gehört dazu. Ich habe dir doch gesagt, daß er noch lebt. In der Schweiz.«
»Schweiz«, wiederholte ich. Ich hatte seinen Namen auf der Liste der Überlebenden des Roten Kreuzes gesehen. Ich hatte Artikel von ihm über das publizierte Tagebuch gelesen. Aber jene Berichte waren so substanzlos wie Gerüchte. Jetzt war er auf einmal in meiner Küche. Ich konnte nicht mehr so tun, als würde ich nicht an ihn glauben. Du bist wie ein Sohn zu mir, hatte er immer gesagt, wenn ich ihm etwas zu essen in die Krankenbaracke von Auschwitz brachte.
»In Basel«, sagte Madeleine. Sie nahm einen
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