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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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Bett gebracht, ich könne ihnen noch gute Nacht sagen. Ihre Finger flogen über die Tasten. Sie konnte außerordentlich gut tippen, dank meines Schwiegervaters, der darauf bestanden hatte, daß seine Töchter eine zweckmäßige Ausbildung bekamen, für den Fall, daß ein unerwarteter Schicksalsschlag sie traf und sie eines Tages ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müßten. Ich beneidete ihn um seine Vorstellung eines unerwarteten Schicksalsschlags.
     Ich ging die Treppe hinauf, um meinen Töchtern gute Nacht zu sagen. Madeleine mußte so versunken in das gewesen sein, was sie tat, daß sie ihr Gefühl für Zeit verloren hatte. Die Mädchen schliefen bereits. Ich stand in der Türöffnung und betrachtete sie bei dem schwachen Licht, das wie rosafarbener und hellblauer Nebel aus der wie ein Schmetterling geformten Nachtlampe in der Ecke floß. Abigail schlief tief und fest wie eine Mumie, die Arme an den Seiten, ihr Gesicht ein sauber geschrubbter Mond über der geblümten Steppdecke.
     Betsy lag ausgebreitet auf dem Bett, als wäre sie von großer Höhe heruntergefallen. Mit dem Gesicht nach unten, Arme und Beine scharf von ihrem kleinen Körper abgewinkelt, erinnerte mich ihre Haltung an etwas. Es dauerte eine Weile, bis ich wußte, woran. Sie sah aus wie ein menschliches Hakenkreuz. Ich trat ins Zimmer, beugte mich über ihr Bett und legte ihre Arme und Beine gerade hin. Dann deckte ich sie zu und ging wieder hinunter.
     Madeleine saß noch immer am Tisch. Ihre Finger flogen über die Tasten. Sie beeilte sich, sie wollte fertig werden. Meine Frau mochte es nicht, wenn sie, sobald ich nach Hause kam, noch etwas zu tun hatte. McCall's. Ladies' Home Journal und ihre Mutter hatten sie davor gewarnt, daß Unaufmerksamkeit der erste Schritt auf dem Abwärtspfad für abwandernde Ehemänner wäre und daß es genug ehezerstörende Hyänen darauf abgesehen hätten, zweite Ehefrauen zu werden. Sie glaubte weder ihrer Mutter noch den Magazinen, trotzdem war sie sich nicht sicher genug, um die Probe aufs Exempel zu machen.
     Ich trat hinter sie, beugte mich vor, küßte sie auf den Kopf und faßte unter ihre Arme, um sie an mich zu ziehen. Sie hatte aufgehört zu stillen, aber ihre Brüste waren noch immer angeschwollen.
     Sie zuckte mit den Schultern, um mich abzuschütteln. »Ich bin in einer Minute fertig.«
     »Was ist es diesmal? Hungernde Kinder in Griechenland oder Kommunistenhetzer in Washington?« Ich neckte sie mit ihren Aktivitäten, und zugleich beneidete ich sie wegen ihres Glaubens daran. Wie beruhigend zu denken, daß ein wütender Brief Unrecht wiedergutmachen könnte, eine dringliche Petition die Welt retten.
     »Schau dir das an.« Sie machte eine Kopfbewegung zu einer Zeitung, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Newark Star Ledger stand in großen Buchstaben oben auf der Vorderseite. Wir hatten den Newark Star-Ledger nicht abonniert, entweder hatte sie ihn von jemandem bekommen oder jemand hatte ihr gesagt, sie müsse ihn kaufen. Das war eine Kampagne.
     Ich nahm die Zeitung hoch. Die Schlagzeile über der linken Kolumne sprang mir in die Augen.
    GUSTI HUBERS ROLLE
    IM TAGEBUCH DER ANNE FRANK

     Ich war überrascht. Madeleine hatte das Stück seit jenem Abend, als ich sie und die Kinder wegen ihrer Verschwendung von Essen angebrüllt hatte, nicht mehr erwähnt. Allein die Tatsache, daß sie dieses Thema jetzt wieder anschnitt, war ein Zeichen dafür, wie aufgebracht sie war. Sie wollte mich nicht aufregen, aber sie konnte deshalb nicht blind gegen Ungerechtigkeit werden, um welchen Fall auch immer es sich handelte.
     »Dieses Dokument hat als Buch und als Theaterstück die Herzen Hunderttausender Menschen angerührt«, las ich.
     Ich konnte noch immer nicht verstehen, warum. So viele Menschen waren untergetaucht gewesen. Millionen waren gestorben. Niemand hatte sich darum gekümmert. Zumindest hatte niemand etwas dafür getan, das alles zu verhindern. Und als es vorbei war, wollte niemand etwas davon wissen. Wo du warst, was du gesehen hast, es wird dich bei den Menschen nicht beliebter machen. Das hatte vor zehn Jahren gestimmt, und es stimmte heute noch viel mehr. Anne ausgenommen. Die Welt konnte von Anne nicht genug bekommen. Susan Strasberg starrte einem vom Hochglanzpapier eines halben Dutzends Magazinen entgegen, einschließlich der Titelseite des Life-Magazins, mit cremefarbenem Gesicht, leuchtenden Augen und schimmernden Haaren. Anne hätte damals so gut aussehen sollen. Wir alle

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