Der Junge, der Anne Frank liebte
entfernt. Ich mußte eine halbe Stunde fahren, um ihn zu sehen.
An diesem grünen Frühlingsnachmittag zeigte sich die Sonne. Es war kein Tag, um in einem dunklen Kino zu sitzen. Ich sagte Madeleine, ich würde zum Büro fahren und dann noch bei der Baustelle vorbeischauen. Das tat ich sogar, ich fuhr zum Büro und bog auf den Parkplatz ein, doch dann wendete ich und nahm den Weg hinunter zur Autobahn. Nach den Anfangszeiten, die in der Zeitung angegeben waren, hatte ich es nicht besonders eilig.
Das Kino war voller Kinder und alter Leute. Ich war der einzige Erwachsene in den besten Jahren, der bereit war, einen Nachmittag sinnlos zu vergeuden. Ich setzte mich auf einen Platz am Gang, ich wollte die anderen Leute nicht stören, wenn ich ging. Ich hatte nämlich nicht die Absicht, bis zum Ende zu bleiben. Ich war nur neugierig und wollte ein paar Minuten zuschauen.
Ich mußte den Vorspann mit drei oder vier Vorankündigungen ausharren, bevor der Film begann. Meine Schuhsohlen pappten an dem limonadeverschmierten Fußboden. Ich war nicht nervös. Ich wollte nur, daß die Vorführung endlich begann.
Der Name des Studios erschien auf der Leinwand. Die Luft war erfüllt mit etwas, was sich anhörte wie hundert Saiteninstrumente. Wolkenweiße Buchstaben schimmerten vor einem offenen Himmel. Das Tagebuch der Anne Frank. Das hätte ihr gefallen. Die Kamera wanderte vom Himmel zur Westerkerk, dann zum Kanal. Mein Kopf drehte sich für einen Moment, aber das war nur ein Schwindelgefühl, herbeigeführt durch diese Kameraführung. Ein Lastwagen voller Flüchtlinge, einige von ihnen noch in gestreiften Anzügen, rollte die Straße herunter. Joseph Schildkraut sprang herunter. Eins mußte ich dem Schauspieler zugestehen. Er sah nicht nur aus wie Otto – die Ähnlichkeit war geradezu unheimlich –, er bewegte sich sogar wie er. Ein schlechterer Schauspieler hätte sich zu einem Symbol des Elends gemacht, aber Schildkraut hatte Otto offenbar studiert. Er bewegte sich wie ein Mann, dessen Geist man gebrochen hatte, aber dessen Haltung, dank seiner Ausbildung in der deutschen Armee, noch immer gerade und aufrecht war. Einer nach dem anderen erschienen die Figuren auf der Leinwand. Ich mußte lächeln. Die milchhäutige, liebliche Schauspielerin – ein früheres Model, hatte ich gelesen – hatte überhaupt keine Beziehung zu irgend jemandem, den ich gekannt hatte, aber vielleicht wollten Kinogänger nicht unbedingt ihr gutes Geld ausgeben, um ein Mädchen mit unregelmäßigen Zähnen und dem Schatten eines dunklen Flaums auf der Oberlippe zu sehen. Es gab auch einen Jungen, der Peter hieß. Er war adrett rasiert und athletisch, aber hatte etwas Sensibles. Ich fühlte ein Aufblitzen von Neid, obwohl ich nicht sagen konnte, ob das an dem goldenen Jungen auf der Leinwand lag oder an der märchenhaften Rolle, die er spielte. Shelley Winters hob ihren Rock an, tanzte in den Kulissen herum und schüttelte ihre blondgefärbten Locken. Ich wünschte, sie hätten keine gebleichte Blondine aus ihr gemacht. Ihr Mann knurrte und maulte unter einem schwarzen Schnurrbart hervor. Dussel, der Zahnarzt, stieß zu der Gruppe, und nun bekam die Story etwas Komisches. Die Autoren hatten einen amüsanten Idioten geschaffen. Ich konnte nicht anders, ich mußte lachen. Das gesamte Publikum lachte über Dussels Blödheit und über Annes augenrollende, süßlächelnde Triumphe, und ich lachte lauter als die anderen, sogar so laut, daß eine dicknackige Frau auf dem Sitz vor mir sich umdrehte und mich strafend ansah. Ich entschuldigte mich, aber eine Minute später lachte ich wieder. Ich konnte mir nicht helfen. Wieder drehte sie sich um und sagte, wenn ich mich nicht beherrschen könne, solle ich lieber weggehen und die anderen den Film genießen lassen. Es gelang mir, mich zu beruhigen. Ich wollte nicht die Aufmerksamkeit auf mich lenken. Außerdem hatte gerade die Bombardierungsszene angefangen, und die wollte ich nicht verpassen. Ich war gespannt darauf, ob Mr. Stevens' Konstruktion funktionierte. Es tut mir leid, sagen zu müssen, daß das Ding sein Geld nicht wert war. Das konnte ich beurteilen, auch ohne die Kosten für Arbeit und Material genau zu kennen. Die Szene war nichts anderes als die kindische Vorstellung eines amerikanischen Zivilisten von einer Bombardierung.
Der Junge, der Peter hieß, hörte auf, Anne anzuschnauzen, und sie hörte auf, sich auf seine Kosten lustig zu machen. Dann fingen sie an, sich sehnsüchtige Blicke
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