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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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zuzuwerfen. Anne stieg zu ihm hinauf, und die Eltern machten sich Sorgen und diskutierten darüber, aber es war ein sauberer amerikanischer Film mit sauberen amerikanischen Kids, sogar wenn sie deutsche Juden darstellen sollten, die sich in Amsterdam versteckten, und im Gegensatz zu den Eltern wußte jeder im Publikum, daß es zwischen den beiden nichts gab, worüber man sich Sorgen machen mußte, zumindest was Sex betraf. Als sie sich endlich küßten, seufzte das Mädchen neben mir tief ergriffen auf.
     Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Der Film war länger, als ich erwartet hatte. Als ich wieder zur Leinwand schaute, war es dunkel, bis auf eine einzige, flackernde Flamme. Es wurde gerufen, gestoßen. Ein Dieb! Ein Dieb! schreit Frau Frank. Den Kindern das Brot aus dem Mund stehlen, jammert sie. Ich habe Ihren eigenen Sohn heute morgen im Schlaf vor Hunger weinen hören, heult sie. Otto macht einen Schritt nach vorn und spricht.
     »Wir brauchen die Nazis nicht, damit sie uns zerstören. Wir zerstören uns selbst.«
     »Um Gottes willen«, murmelte ich.
     Die Frau vor mir drehte sich wieder um.
     »Tut mir leid«, flüstere ich ihr zu. Aber Otto hätte es besser wissen müssen. Jeder, der das durchgemacht hat, was Otto durchgemacht hat, hätte es besser wissen müssen, dürfte nicht einen Stuß reden. Dann erinnerte ich mich daran, daß es nicht Otto war, der Stuß redete, sondern der Schauspieler. Otto hätte so etwas nie gesagt, denn wir haben uns nie gegenseitig zerstört, weil mein Vater nie Brot gestohlen hat.
     Jetzt war es fast vorbei. Ich hörte es an der Sirene, obwohl es keine Sirenen gegeben hatte, als die Grüne Polizei gekommen war. Aber ich verstand, warum der Regisseur diesen Effekt eingesetzt hatte. Das Schrillen der Sirenen zerrte an meinen Nerven, obwohl ich dieses Geräusch seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Das Mädchen neben mir, das vermutlich nie eine Sirene gehört hatte, begann zu schluchzen. Als die Polizei das Glas der Vordertür zerschlug, noch etwas, was sie nicht getan hatten, stöhnte die dicknackige Frau vor mir auf. Die Dunkelheit vibrierte von Wimmern und Ächzen und von trompetenden Nasen.
     Die Kamera wanderte zurück zum Himmel. Wolken zogen vorbei. Möwen kreischten und stürzten herab.
     Der Film war vorüber. Aber das war nicht das Ende. Danach gab es noch Westerbork und Auschwitz und Bergen-Belsen. Sie hatten sogar davon Szenen gedreht, aber die waren im Schneideraum geblieben. Ich hatte irgendwo gehört, der Regisseur hätte eine letzte Szene in einem nachgestellten Auschwitz gedreht, aber die Zuschauer hätten bei den Probevorstellungen auf ihren Stimmzetteln ihre Empörung ausgedrückt. Die Anne, die sie kannten, war nie in einem Konzentrationslager gestorben. Zumindest wollten sie sie nicht in einem Konzentrationslager sterben sehen.
     Der dünne Singsang der milchhäutigen Schauspielerin flog über weggeworfene Bonbonpapiere und zerdrückte Popcorntüten und über die Köpfe der ersten Zuschauer hinweg, die sich schon den Gang entlangschoben, auf den erleuchteten Ausgang zu.
     … trotz allem, weil ich noch immer an das innere Gute im Menschen glaube.
     Ein Seufzer erfüllte den Kinosaal. Das war es, was das Publikum wollte. Den Triumph des menschlichen Geistes, wie meine Frau es genannt hat. Sie wollten die Versicherung, daß menschliche Wesen im Herzen gut sind, obwohl Millionen nur auf Grund des Zufalls ihrer Geburt gestorben sind, obwohl andere bereit und willig waren, ihnen Goldfüllungen aus dem Mund zu brechen, bevor sie sie in Öfen schaufelten, obwohl sie im Interesse der Medizin grauenhafte Experimente ohne Narkose an ihnen vorgenommen haben, obwohl ein ganzes Volk von blutdürstigen Mittätern die Welt von einem anderen ganzen Volk säubern wollte.
     Trotzdem war ich froh, daß ich den Film gesehen hatte, trotz der letzten, geistlosen Szene. Jetzt brauchte ich wenigstens nicht mehr daran zu denken.

VIERZEHN

    Lou Jacobi als dieser Weichling van Daan
    ist auf ärgerliche Art träge
                      und pathetisch langsam. Bosley Crowther in einer Kritik des Films

                              Das Tagebuch der Anne Frank Ist es notwendig, daß Frau van Daan mich einen Heiligen
    nennt? Ich verstehe, daß Sie sie als eine hysterische und
    exaltierte Frau darstellen wollen,
    aber ich fühle mich ein bißchen beschämt.
    Otto Frank in Hinweisen an die Drehbuchschreiber

    Madeleine hatte das große Foto an

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