Der Junge, der Anne Frank liebte
nahm den Schlüssel, schloß die kleine Glastür mit der Nummer auf, öffnete sie und spähte in das Fach. Abend um Abend starrte ich in die leere Öffnung. Eine Woche ging vorbei, dann eine zweite und eine dritte. Am Tag, an dem die Miete des Postfachs für den folgenden Monat fällig war, machte ich die Glastür auf, bückte mich und schaute hinein. An einer Wand lehnte ein Briefumschlag. Ich zog ihn heraus. Er war schwer in meiner Hand. Ich starrte auf die Adresse hinunter. Mr. Peter van Pels, stand da über der Postfachnummer. Auf dem oberen linken Rand befanden sich einige Namen, wie eine kleine Juristenarmee liefen sie über den Umschlag.
Ich riß den Brief auf. Nur ein einziges Blatt war darin, aus dem gleichen, cremefarbenen Papier wie der Umschlag. Ich faltete das Blatt auf. Wieder stand mein Name über der Postfachnummer. Der Schreiber, der Otto Franks Interessen vertrat, wollte mich darüber in Kenntnis setzen, daß auf den offiziellen Listen des Roten Kreuzes, auf denen die Überlebenden aufgeführt werden, kein Peter van Pels steht. Herr Frank habe Peter van Pels, der sich mit ihm an der Prinsengracht 263 versteckt hatte, das letzte Mal in der Krankenbaracke von Auschwitz gesehen. Die Erinnerung sei äußerst schmerzlich für Herrn Frank. Er habe den Jungen gebeten zu bleiben. Der Junge habe gesagt, er sehe seine Chance in einem Evakuierungsmarsch. Herr Frank mache sich bis heute Vorwürfe, daß es ihm nicht gelungen war, den Jungen, der für ihn wie ein Sohn war, zum Bleiben zu überreden.
Es gab noch einen anderen Absatz. Jeder weitere Versuch, Herrn Otto Frank oder sonst jemanden, der mit der Geschichte Anne Franks zu tun hat, zu belästigen, würde gerichtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Ich saß auf der abgewetzten Holzbank mitten im Raum und las den Brief immer wieder. Von dem rothaarigen Mann hatte ich nicht erwartet, daß er mir glaubte. Ich wußte, daß Fremde skeptisch sein würden. Aber Otto kannte mich. Zwei Jahre und dreiundzwanzig Tage hatten wir in der erstickenden Nähe des Hinterhauses zusammengelebt. Im Lager hatte ich ihm Essen gebracht, und wie der Brief sagte, hatte er versucht, mich dazu zu überreden, daß ich mit ihm zurückblieb. Er hatte gesagt, ich sei wie ein Sohn für ihn. Und jetzt glaubte er nicht, daß ich lebte.
Ich unternahm einen weiteren Versuch. Ich schrieb an meinen Onkel, dem, der mir damals Geld ins D.-P.-Lager geschickt hatte. Er wußte, daß ich den Krieg überlebt hatte. Er würde bezeugen, wer ich war. Er würde mir helfen, das Unrecht, das Otto begangen hatte, wiedergutzumachen.
Seine Antwort kam in weniger als einer Woche, aber er hatte, anders als Otto, die Angelegenheit nicht an einen Rechtsanwalt weitergeleitet. Zur Kenntnis war sie überschrieben, nicht mit Lieber Peter, noch nicht einmal mit Mr. van Pels. Wer immer ich auch sei, und mein Name könne ja tatsächlich Peter van Pels sein, ich sei nicht das Kind, an das er sich erinnere, der Sohn seines Bruders, den er geliebt habe.
Jener Peter van Pels hätte ihn nicht um Geld geprellt, um in dieses Land zu kommen, und wäre dann verschwunden. Jener Peter van Pels hatte Familiensinn.
SIEBZEHN
Wenn Anne Frank von den Ermordeten zurückkommen könnte,
sie wäre entsetzt von dem Mißbrauch, den man mit ihren
Tagebucheintragungen getrieben hat.
»Der Gebrauch – und der Mißbrauch – des Tagebuchs eines
jungen Mädchens« von Lawrence L. Langer in Anne Frank.
Reflections on Her Life and Legacy,
hg. von Hyman A. Enzer und Sandra Solotaroff-Enzer
›Das Tagebuch der Anne Frank‹, das Broadway-Stück, das den
Pulitzer-Preis gewann, ist zum Gegenstand von
Gerichtsprozessen wegen Vertragsbruchs geworden… Mr.
Levin behauptet, seine Fassung sei als ›zu jüdisch‹
diskriminiert worden… Mr. Bloomgarden… nannte das
Argument der ›Jüdischkeit‹ absurd und falsch.
New York World Telegram and Sun, 18. März 1957
Wenn du mich wirklich liebst, nimmst du eine Pistole
und erschießt Otto Frank.
Meyer Levin an seine Frau, zitiert in
Otto Franks Geheimnis. Der Vater von Anne Frank
und sein geheimes Leben von Carol Ann Lee
Ich wollte nicht in den Prozeß gegen Otto verwickelt werden. Aber mein Vater verlangte eine Entlastung. Meine Kinder wollten umarmt und von mir zugedeckt werden, sie wollten zu Autofahrten mitgenommen werden. Ich mußte etwas unternehmen.
Ich schrieb einen dritten Brief, diesmal an diesen Mann namens Meyer Levin. Levin hatte ein Theaterstück
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