Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
Vom Netzwerk:
geschrieben, das auf Annes Tagebuch basierte. Er habe das Projekt auf die dringende Bitte Otto Franks hin auf sich genommen, behauptete er. Seine Version sei, wie er betonte, dem Inhalt des Tagebuchs treu geblieben. Er spreche mit der Stimme Anne Franks. Ich verstand nicht, wie ein Amerikaner mittleren Alters, dessen Erfahrung mit Lagern lediglich die eines Korrespondenten war, als die 9. U. S. Air Force Buchenwald befreit hatte, glauben konnte, er könne mit der Stimme eines schreibbesessenen Mädchens sprechen, das sein Leben in Bergen-Belsen ausgehaucht hatte. Aber das nur nebenbei. Levin schwor, das Stück, das am Broadway gespielt worden war und sich über die ganze Welt verbreitet hatte, sei ein Haufen Lügen. Er war ein Mann nach meinem Geschmack.
     Levin schrieb sofort zurück. Ich las seine Antwort auf derselben Holzbank im Postamt, wo ich den Brief von Ottos Rechtsanwalt und den meines Onkels gelesen hatte, die mir sagten, daß ich nicht existierte. Levin hatte keine Zweifel an meiner Identität. Zumindest drückte er das in seinem Brief nicht aus. Er wollte wissen, wie bald wir uns treffen könnten. Er wollte mir unbedingt Akten zeigen, die bewiesen, daß Otto Auschwitz nur wegen seiner Kontakte mit Kommunisten überlebt hatte, und als Beweis dafür führte er im Detail Ottos Reise durch sowjetisches Territorium an, eine Reise, die Otto vom Lager zurück nach Amsterdam geführt hatte. Er beschuldigte Otto, sein Stück umgebracht zu haben, so wie die Nazis Anne umgebracht hätten, und zwar aus demselben Grund. Sein Stück schlage mit einem jüdischen Herzen und brenne mit einer jüdischen Seele, und Otto sei ein antisemitischer Sympathisant der Kommunisten und ein sich selbst hassender Jude. Er gab seine Telefonnummer an und bat mich, ihn sofort anzurufen.
     Er sprach von einem Buch, in dem meine Seite der Geschichte dargestellt werden solle, und von einem Theaterstück, das folgen und die wahre Geschichte von Anne Frank erzählen würde, von Anne und von mir, Peter van Daan – der getippte Name van Daan war durchgestrichen, und mit einem Bleistift war van Pels darübergeschrieben worden –, des Jungen, der sie geliebt hatte. Am Schluß des Briefes drängte er mich, keine Minute zu vergeuden. Die Welt warte auf meine Geschichte. Ich sei es Anne schuldig. Ich sei es der Geschichte schuldig. Ich sei es ihm schuldig, der Stimme des Judentums, einem, der die Wahrheit erzähle, einem Künstler. Er warnte mich auch, mit keinem anderen über diese Angelegenheit zu sprechen, bis wir uns geeinigt und die notwendigen Verträge geschlossen hätten. Es gebe viele Probleme bezüglich einer Veröffentlichung, der Werbung, der Nebenrechte, und man könne einfach nicht erwarten, daß ein Nichtprofessioneller wie ich sie verstand. Er spreche nicht nur über die finanziellen Abkommen. Obwohl er kein reicher Mann sei, gehe sein neuer Roman Zwang sehr gut. Um es offen zu sagen, er sei nicht auf Geld aus. Als Beweis dafür versprach er, jeden Penny, den er über seine Auslagen hinaus verdienen würde, an jüdische Wohltätigkeitsvereine zu spenden. Er sorge sich nur um das Andenken Anne Franks und der sechs Millionen Toten. Alles, was er wolle, sei, daß ihre wahre Stimme gehört werde. Er sei sicher, daß ich genauso empfände. Er freue sich auf das Zusammentreffen mit mir, wünsche mir Gesundheit. Er unterschrieb mit Hochachtungsvoll, Meyer Levin.
     Es gab noch ein Postskriptum. Er fragte, ob ich eine Familie hätte, vielleicht eine Tochter, und wollte wissen, ob sie schon alt genug sei für Fernsehauftritte.
     Ich zerriß den Brief in kleine Stücke, warf sie in den großen Papierkorb, der übervoll war mit ungewünschten Flugblättern und unverlangten Werbesendungen, dann ging ich zum Schalter vorn im Postamt. Ich gab dem Beamten den Schlüssel zum Postfach zurück. Er sagte, meine Miete gelte für weitere achtzehn Tage und warnte mich, daß er mir kein Geld zurückgeben könne. Ich sagte ihm, ich wolle gar kein Geld zurück. Er fragte, ob ich eine Nachsendeadresse zurücklassen wolle. Ich sagte, ich hätte keine Nachsendeadresse, und fügte hinzu, es gäbe keinen Ort, an dem man mich erreichen könne. Bevor ich ging, bemerkte ich noch, daß ich das Land für längere Zeit verlassen würde.

    Ein paar Wochen später fuhr ich auf der New Jersey Turnpike in nördlicher Richtung nach Lower Manhattan. Ich wollte nicht in Meyer Levins irregeleitete Pläne verwickelt werden, aber ich wollte bei dem Prozeß dabeisein. Wenn

Weitere Kostenlose Bücher