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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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er das Stück als einen Haufen Lügen bloßstellte, wäre ich wenigstens dabei, wie mein Vater vor einem amerikanischen Gericht entlastet würde.
     Viele Leute waren über diesen Prozeß schockiert. Wer wagte es, den Vater der Heiligen vor Gericht zu zerren?
     Die jüdische Gemeinde war besonders empört. Die jüdische Gemeinde ist eine Lieblingsformulierung meines Schwiegervaters, als wären wir, oder besser sie, eine einzige große glückliche Familie; es ging nicht um Kapos, nicht um Schwarzhändler, nicht um düstere Gestalten, die sich durch die Grauzone des Überlebens schlichen, nein, in diesem Fall stritten erwachsene Männer um den Körper eines toten Kindes. Einige Säulen der sogenannten Gemeinde vertraten Levins Ansicht. Andere verlangten, daß man den armen Otto in Ruhe lassen solle. Eine dritte Gruppe erhob die Stimme zu einem gemeinsamen Pst. Wascht in der Öffentlichkeit keine schmutzige Wäsche! Zeigt keine Unstimmigkeiten vor den Gojim! Zwei gutwillige Männer sollten doch in der Lage sein, einen außergerichtlichen Vergleich zu finden. Aber sie schafften es nicht. Der Prozeß wurde am New Yorker obersten Gericht in Manhattan eröffnet, an einem Freitagmorgen Mitte Dezember.
     Otto war die erste Person, die ich sah, als ich das Gerichtsgebäude betrat, und die zweite und die fünfte. Zuerst sah ich seinen Kopf von hinten, als er in einen Aufzug stieg, dann sein Profil, als er sich mit einem anderen Mann unterhielt, und schließlich kam er mir im Korridor entgegen. Ich blieb stehen. Ich konnte es nicht glauben, obwohl er der Grund dafür war, daß ich hier war.
     Er kam auf mich zu, mit langsamen Schritten, die Hand unter den Ellenbogen einer Frau geschoben, die neben ihm ging, seiner neuen Frau, nahm ich an. Er hatte den Kopf gesenkt, sein Rücken war noch immer gerade. Ein anderer Mann, der mit dem teuer aussehenden Kaschmirmantel, ging an seiner anderen Seite und flüsterte ihm beim Gehen etwas ins Ohr. Ich blieb stehen. Mein Herz klopfte so wild, ich war sicher, man könnte das Klopfen durch Hemd und Anzugjacke und Mantel sehen. Jetzt kam er näher. Ich wollte ihn anschauen. Er nahm seinen Blick von dem abgestoßenen Marmorfußboden. Ich hielt die Luft an. Sein Blick ging durch mich hindurch. Es könnte mich genausogut gar nicht gegeben haben.
     Ich fühlte, wie meine Lippen seinen Namen formten, aber ich brachte ihn nicht heraus. Er ging an mir vorbei. Ich schaute ihm nach, betrachtete den militärisch aufrechten Rücken. Dreh dich um, dachte ich. Dreh dich um, du verlogener Schweinehund. Aber ich sagte nichts, und Otto drehte sich nicht um.
     Was hatte ich erwartet? Das letzte Mal, als er mich gesehen hatte, war ich ein Junge gewesen, ausgehungert, bedeckt mit Grind und Läusen, mit vor Angst hochgezogenen Schultern. Der Brief des Rechtsanwalts hatte die Wahrheit gesagt. Jener Peter van Pels war am Kriegsende gestorben. Ich drehte mich um, folgte Otto den Korridor hinunter und betrat mit dem Rest der Zuhörer den Gerichtssaal.
     Die Richterbank, flankiert von Staats- und Landesflaggen, tauchte am anderen Ende auf. Alexander Hamilton und Dwight D. Eisenhower und Averell Harriman blickten feierlich aus ihren Goldrahmen. Der Raum roch nach Ernst und Rechtschaffenheit. Ich fand die Atmosphäre ermutigend.
     Ich suchte mir einen Platz in einer der hinteren Reihen, zog meinen Mantel aus und legte ihn zusammengefaltet auf meine Knie, aber gerade als ich es mir bequem gemacht hatte, kam der Richter herein, und wir standen auf. Normalerweise mag ich Pomp nicht besonders, aber in diesem Fall fand ich ihn beruhigend.
     Wir setzten uns, und ich ordnete meinen dicken Mantel noch mal. Wenn es nicht der Gerichtssaal gewesen wäre, hätte ich noch mein Jackett ausgezogen. Der Raum war festlich, aber überheizt.
     Während der Richter und die Anwälte die Präliminarien erledigten, betrachtete ich die zwölf Männer auf der Geschworenenbank. Sie sahen selbstbewußt aus, zugleich ein wenig verwundert darüber, daß sie hier saßen. Keiner von ihnen zeigte Anzeichen einer besonderen geistigen Kühnheit. So sollte es auch sein. Das amerikanische Rechtssystem beruhte auf einer Jury von Ebenbürtigen. Wie klug mußten sie sein, um Wahrheit und Lüge zu scheiden?
     Levin saß an einem der beiden Tische vorn im Saal. Ich erkannte ihn von Fotos und seinen Fernsehauftritten. Er war ein stiernackiger und breitschultriger Mann, mit einem breiten Gesicht, das von schweren Augenbrauen überschattet war. Sein Haar

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