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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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»Sie sind ein sehr gescheiter junger Mann, Mr. Wolfe. Das Stück ist eine Karikatur. Kennen Sie die Mutter, nicht Frau Frank, die andere, Frau van Pels, die sie Frau van Daan nennen?«
     Ich nickte.
     »Sie war eine reizende Frau. Und großzügig. Als Miep Geburtstag hatte, dieses Mädchen in Herrn Franks Büro, diejenige, die geholfen hat, sie zu verstecken, schenkte ihr Frau van Pels einen Ring mit einem Diamanten. Miep will ihn nicht nehmen. Sie hat schon Frau van Pels' Pelzmantel verkauft, sie weiß, daß ihr Geld und die Dinge, die sich verkaufen lassen, knapp werden. Aber Frau van Pels besteht darauf. Sie sagt, sie und ihr Mann wollten Miep etwas schenken, um ihre Dankbarkeit zu zeigen.«
     Den Ring hatte ich vergessen. Ich sah meine Eltern, wie sie die wenigen Schmuckstücke durchgingen, die meiner Mutter noch geblieben waren. Das eine war nicht gut genug, das andere zu gut, wir könnten ein paar Wochen davon leben. Schließlich einigten sie sich auf den Ring, den mein Vater meiner Mutter vor ein paar Jahren zu einem Hochzeitstag geschenkt hatte. Meine Mutter hatte sich nur widerstrebend davon getrennt, wegen seines emotionalen Werts, aber mein Vater hatte gesagt, das würde das Geschenk für Miep noch wertvoller machen.
     »Und was ist mit ihrem Mann?« fragte ich. »Mit Herrn van Daan?«
     »Sie meinen Herrn van Pels? Ein sehr charmanter Herr.« Sie schaute an mir vorbei, als sähe sie die Vergangenheit direkt hinter meiner Schulter, und ihr Mund verzog sich zu einem wehmütigen Halbmond. Sie wußte also, daß mein Vater sie mochte. Ihre Augen wanderten zu mir zurück. »Nie habe ich jemanden mit so einem kultivierten Geschmackssinn getroffen.« Sie berührte die eigene Nase mit dem Zeigefinger. »Es gab kein Gewürz, das er nicht am Geruch identifizieren konnte. Ein Duft von einer Wurst oder irgendeinem anderen Gericht, und er konnte einem alles sagen. Paprika, Thymian, Rosmarin, Kardamom. Es spielte keine Rolle, wie viele Gewürze es waren und wie exotisch. Herr van Pels kannte sie. Er war sehr feinsinnig. Nicht die Spur von diesem ungehobelten Flegel im Stück.«
     Ich hatte auch seine Nase vergessen. Gab es irgend etwas, woran ich mich erinnerte?
     »Und doch soll dieser Mann, sensibel, wie er war, mit seiner kultivierten Nase, den Kindern das Brot weggegessen haben.«
     Sie schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen.«
     »Sie wollen damit sagen, das stimmt auch nicht?«
     »Es ist erfunden, genau wie sie Sachen über meinen Mann erfunden haben.«
     »Wie können Sie sicher sein?« sagte ich. »Sie waren nicht dort.«
     »Ich kannte Herrn van Pels. So etwas hätte er nie im Leben getan. Und wenn er es getan hätte, hätte mir mein Mann darüber geschrieben. Das ist eine weitere Wahrheit, die im Prozeß ausgesprochen gehört.«
     Aber die Zeugenaussagen dauerten an, und bisher hatte keiner den Namen meines Vaters oder den von Charlottes Ehemann auch nur erwähnt, noch nicht einmal die ausgedachten Namen. Ein amerikanischer Rabbi, der den Krieg in einer Synagoge nicht weit von Hollywood verbracht hatte, beschwerte sich, daß das Stück, von dem Otto erlaubt hatte, daß es nach dem Tagebuch seiner Tochter geschrieben wurde, nicht jüdisch genug sei. Ein Wissenschaftler hatte ausgerechnet, daß weniger als zwanzig Prozent von Annes Tagebuch etwas mit Juden zu tun hatte. Argumente und Gegenargumente flogen durch den überheizten Gerichtssaal. Bitterkeit lag in der Luft. Erwachsene Menschen erhoben ihre Stimmen, um einem toten Mädchen die Worte in den Mund zu legen, die sie hören wollten. Aber sie kamen der Wahrheit nicht näher. Als sie zu ihren Resümees ansetzten, wußte ich, daß ich etwas unternehmen mußte. Ich würde keine Szene machen. Ich wollte den Bericht nur geraderücken. Ich wollte erklären, daß Anne ein Kind gewesen war. Ein Mädchen, das manchmal glaubte und manchmal zweifelte. An einem Tag dachte sie, die Menschen wären gut, am Tag darauf haßte sie alle, einschließlich ihrer Eltern und ihrer Schwester, eingesperrt in diesem stinkenden Hinterhaus sogar vor allem ihre Eltern und ihre Schwester. Sie war ein heranwachsendes Mädchen, das die eigenen Gedanken in ein rotkariertes Tagebuch schrieb, das sie zu ihrem Geburtstag bekommen hatte, bis es voll war, und daß sie dann auf jedes Stück Papier schrieb, dessen sie habhaft werden konnte. Ich wollte ihnen von meinem Vater erzählen, der kein Brot gestohlen hatte, sondern alles mögliche arrangiert hatte, bevor wir untertauchten,

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