Der Junge, der Anne Frank liebte
Charakter.
»Er hat versucht, mich einzuschüchtern. Aber er versteht nicht, daß ich nichts mehr habe, wovor ich mich fürchten muß. Ich habe schon meinen lieben Mann verloren. Alles, was ich habe, ist sein Andenken. Dafür muß ich kämpfen. Also habe ich an die Leute geschrieben, die das Stück gemacht haben, diese Mr. und Mrs. Hackett.« Sie zog die Schultern hoch und schüttelte wieder den Kopf, als wolle sie mich warnen, nicht zuviel zu erwarten. »Erst antworteten sie nicht. Ich denke, sie hatten Angst. Sie wußten, daß es nicht richtig war. Sie wußten, daß auch eine arme Witwe sie verklagen kann, egal, was Otto Frank über die juristische Sicht gesagt hat. Schließlich bekam ich einen Brief. Er ist schlimmer als Ottos. Er ist verrückt. Sie sagen, sie mußten meinen Fritz als Hanswurst darstellen, damit die Welt die schlimmen Dinge nicht vergißt, die passiert sind. Sie sagen, wenn die Leute keinen Dussel haben, über den sie lachen können, kommen sie nicht, um sich das Stück anzuschauen, und dann hören sie auch nicht die wichtige Botschaft, die sie, die Hacketts, mitzuteilen haben. Das ist es, was ich nicht verstehe. Millionen Menschen sind tot, und niemand wird sie betrauern, wenn man nicht aus meinem Fritz einen Idioten macht?« Diese Worte hatte sie über den Tisch gebeugt ausgestoßen. Nun lehnte sie sich wieder in ihrem Stuhl zurück. »Verzeihen Sie mir, Mr. Wolfe. Ich bin zu erregt. Aber es ist nicht gerecht, daß Otto Frank für die ganze Welt ein Held ist und mein Fritz nur ein lächerlicher Hampelmann. Das ist der Grund, weshalb ich hergekommen bin. Um zu hören, wie Otto Frank die Wahrheit zugibt.«
Ich sah sie über den Tisch hinweg an. Heute trug sie das abgetragene blaue Kostüm, das sie abwechselnd mit dem braunen anzog. Ich fragte mich, woher sie das Geld für die Reise hatte. Nicht von Pfeffers Pension, das hätte ich wetten können. Hatte sie es von Freunden geliehen? Hatte sie irgendwelchen Besitz versetzt? Sie trug keinen anderen Schmuck als einen einfachen goldenen Ehering.
»Sie sind den ganzen Weg nur deshalb hergekommen?«
Sie streckte die Schultern und hob das Kinn. »Denken Sie, das ist nicht genug? Denken Sie, es ist so wenig zu hören, wie die Wahrheit laut ausgesprochen wird, wie der Name meines Mannes gereinigt wird, sein Andenken wieder hergestellt, sein Wert anerkannt?« Wieder lehnte sie sich über den Tisch zu mir. Ihr Blick brannte auf meinem Gesicht. »Sagen Sie mir, Mr. Wolfe, wenn es jemanden gäbe, den Sie lieben, wenn es um Ihren Vater ginge statt um meinen Mann, würden Sie nicht um die halbe Welt reisen, würden Sie nicht Himmel und Erde in Bewegung setzen, um das Unrecht, das man ihm angetan hat, gutzumachen?«
Ich stieß gegen den Tisch, als ich aufstand. Das Wasser in den Gläsern schwappte hoch. »Wir müssen uns beeilen«, sagte ich. »Wir wollen doch nicht die Nachmittagssitzung verpassen.«
Jeden Tag führte ich, um mein Fernbleiben vom Büro zu entschuldigen, ein neues, weiter entferntes Grundstück als Ausrede an, das ich mir anschauen müßte.
»Geht es dir wirklich gut, Kumpel?« fragte Harry eines Abends, als ich ihn anrief.
»Mir geht es prima«, sagte ich, »aber wenn du es selbst anschauen willst, bitte. Wenn du meinem Urteil nicht traust…«
Er ließ mich nicht aussprechen. Ich hatte gewußt, daß er es nicht tun würde. Allmählich fragte ich mich, wie lange der Prozeß noch dauern würde. Es war am Ende der zweiten Woche, und bis jetzt hatte noch niemand die wirklichen Themen angesprochen. Charlotte und ich saßen Schulter an Schulter und warteten darauf, daß Meyer Levin, der Mann, der mit der wahren Stimme Anne Franks sprach, erklären würde, daß Pfeffer kein Dummkopf gewesen sei und mein Vater kein Dieb. Je länger diese Lügen bestehenblieben, um so mehr begann ich, an meiner Erinnerung zu zweifeln.
Wenn ich mich an meinen Vater als einen Mann mit Schnurrbart erinnerte und an meine Mutter gar nicht mehr, irrte ich mich dabei vielleicht auch in diesem Punkt, obwohl ich das Tagebuch noch einmal gelesen hatte. Vielleicht hatte Anne den Diebstahl meines Vaters in ihrem Tagebuch weggelassen, aber Otto hatte den Autoren davon erzählt. Beim Mittagessen mit Charlotte brachte ich das Thema zur Sprache.
»Ich frage mich«, begann ich, »ob das Stück, wenn es Ihren Mann schlechtmacht, nicht vielleicht auch anderen Personen gegenüber ungerecht ist.«
Sie nickte und legte rote Fingerspitzen auf meinen Arm.
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