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Der Junge, der Anne Frank liebte

Der Junge, der Anne Frank liebte

Titel: Der Junge, der Anne Frank liebte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Feldmann
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frei sei. Sie schaute auf. Ich wartete. Sie sagte, er sei es. Ich murmelte eine Entschuldigung, als ich mich an ihr vorbeischob und mich neben sie setzte.
     Am Dienstag kehrten wir beide zu diesen Plätzen zurück und tauschten einen Gruß. Am Mittwoch half ich ihr schon, ihren Mantel aus- und anzuziehen. Er war genauso schäbig wie das Kostüm, das sie am ersten Tag getragen hatte, und sie hatte den mottenzerfressenen Kragen jetzt an ihm befestigt. Als sich das Gericht am Donnerstag zur Mittagspause zurückzog, fragte ich sie, ob sie vielleicht Lust habe, mich zu einem Mittagessen zu begleiten. Sie zögerte, dann lächelte sie. Es war das Lächeln einer Frau, die für einen Moment vergaß, daß sie eine alte Dame war, und ich freute mich. Dieses Lächeln bedeutete, daß meine Erinnerungen an sie nicht falsch waren.
     Sie sagte, sie würde es gern tun, streckte mir ihre Hand in dem geflickten Handschuh hin und stellte sich als Frau Pfeffer vor. Ich sagte, mein Name sei Harry Wolfe. »Wie das Tier«, fügte ich hinzu, »aber mit einem E.«
     Wir traten aus dem Gerichtsgebäude in das Winterlicht und bahnten uns einen Weg durch die Mengen geschäftiger Leute mit großen Einkaufstaschen. In sechs Tagen war Weihnachten. Fußgänger drängten uns auseinander, ich mußte Charlottes Ellenbogen nehmen, damit wir uns nicht verloren. An irgendeiner Stelle blieb sie vor einem Schaufenster mit einem überlebensgroßen Nikolaus stehen.
     »Als mein Mann noch lebte, feierten wir beides, Chanukka und Weihnachten.« Sie blickte vom Schaufenster zu mir. »Wissen Sie, was Chanukka ist, Mr. Wolfe?« Ich nickte. »Das ist ein weiterer Punkt, den ich ihnen nicht vergeben kann. Sie machen ihn zu einem Ignoranten, der nichts von seiner Religion weiß. Dabei konnte der Mann perfekt Hebräisch, und sie machen jemanden aus ihm, der nicht einmal die eigenen Feiertage kennt.«
     »Entschuldigen Sie?« sagte ich, aber sie schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab. Wir gingen weiter.
     Im Restaurant gelang es mir, eine Nische für uns zu bekommen. Auch hier war es nicht gerade leise, doch nicht so laut wie an den Tischen in der Mitte des Raums. Bestellungen wurden gerufen, Geschirr klapperte, und diese Geräusche mischten sich mit einigen Dutzend Gesprächen und wurden als Echo von der hohen Blechdecke zurückgeworfen. Ich entschuldigte mich für den Lärm und erklärte, daß es in diesem Viertel um die Mittagszeit immer etwas hektisch zuginge.
     »Amerikaner haben es immer eilig«, sagte sie.
     »Sind Sie keine Amerikanerin?«
     »Ich lebe in Amsterdam, ich bin nur für ein paar Wochen hier, solange der Prozeß dauert.«
     Der Kellner kam, Block und Bleistift in der Hand, aber Charlotte sprach zu mir, als sie bestellte, und ich gab die Bestellung weiter.
     »Sie sind den ganzen Weg hierhergekommen, nur für diesen Prozeß?« fragte ich, als der Kellner verschwunden war.
     »Haben Sie das Stück gesehen, von dem beim Prozeß die Rede ist? Die Ursache von den ganzen Unannehmlichkeiten?« Als ich nickte, fragte sie weiter: »Kennen Sie die Figur des Zahnarztes?«
     »Dussel«, sagte ich, obwohl das grausam von mir war.
     »Er hieß nicht Dussel. Diesen Namen hat sich das Mädchen ausgedacht.« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Locken zitterten unter dem trostlosen Hut. »Auch das kann ich ihnen nicht verzeihen. Ein junges Mädchen nennt einen Mann Dussel, und es bedeutet nichts. Ein Buch nennt einen Mann Dussel, und er hat gleich sein Etikett weg. Ein Mädchen schreibt in ihr Tagebuch, daß ein Mann, ein feiner Mensch, den sie eigentlich respektieren sollte, eine Schraube locker hat, das ist unverschämt. Ein Mann publiziert diese Unverschämtheit so, daß sie auf der ganzen Welt für wahr gehalten wird, das ist eine Demütigung. Mein Mann hat gesagt, sie sei ein nettes Kind und sehr klug, aber undiszipliniert. Ich gebe kein Urteil ab. Es muß schwierig gewesen sein, daß ein junges Mädchen und ein erwachsener Mann, ein Mann, der seine Familie vermißte, ein Zimmer teilten.«
     Ich sagte, ich würde nicht verstehen, was sie meine.
     »Der Mann in dem Stück, der Zahnarzt, der das Zimmer mit Anne Frank teilte, hieß nicht Dussel, sondern Pfeffer. Fritz Pfeffer. Ich bin seine Witwe.«
     »In dem Stück wird nicht erwähnt, daß er verheiratet war«, sagte ich, obwohl das ebenfalls grausam war.
     »Wir waren Mann und Frau.« Das weiche Kinn wurde fest. »Die Rassengesetze der Nazis haben Juden und Nichtjuden nicht erlaubt zu

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