Der Junge, der Anne Frank liebte
direkt gegenüber vom Haus Nummer 263.
Ich saß auf einer Bank und studierte den kleinen Stadtplan, den ich am Empfang bekommen hatte, als ich das Hotel verließ. Die Kanäle lagen wie ordentliche blaue Bänder über dem fleischfarbenen Bild der Stadt. Kleine Zahlen markierten Restaurants, Hotels und Nachtclubs, die mit knapp bekleideten Frauen am Rand des Stadtplans für sich warben. Verschiedene Symbole kennzeichneten die Sehenswürdigkeiten. Was aussah wie ein kleiner griechischer Tempel, bezeichnete das AnneFrank-Haus.
Ich hob den Kopf vom Stadtplan und schaute hinüber zu dem Gebäude auf der anderen Seite des Kanals. Ottos Institut hatte bei der Renovierung gute Arbeit geleistet, zu gute, für meinen Geschmack. Die glänzend schwarze Tür war frisch gestrichen. Die Rahmen der langen Fenster, denen wir uns nicht nähern durften, aus Furcht, jemand dort draußen könne uns entdecken, faulten nicht länger vor sich hin. Hinter dem Haus ragten die nackten Äste der Kastanie in den winterweißen Himmel. Meiner Erinnerung nach hatte der Baum damals das Haus nicht überragt, aber vielleicht hatte ich auch einfach nie die Möglichkeit gehabt, es von einem entfernteren Punkt aus zu sehen.
Ich steckte den Plan wieder in die Tasche, stand auf und überquerte die Brücke über den Kanal. Ich hatte mich nicht verirrt, natürlich nicht. Ich war an einem halben Dutzend Hinweisschildern vorbeigekommen, die es mir hätten sagen können.
Wie kann ich meinen Weg durch das Haus beschreiben? Meine Vergangenheit war überall und zugleich nirgends. Sie steckte wie Sand zwischen den Fußbodenbrettern, weichgetreten von Millionen Füßen. Sie starrte mich von der Landkarte an, auf der das Vorrücken der Alliierten dargestellt wurde, die für meine Mutter, meinen Vater, Anne, Margot und Frau Frank und Pfeffer zu spät gekommen waren. Sie winkte mir von den dünnen Vorhängen entgegen, die mit schwachen Schatten bemalt waren, so daß es aussehen sollte, als ob hinter ihnen die Grüne Polizei Juden hinunter auf die Straße führte, in den Tod. Geschickt gemacht, das muß ich sagen. Sie kauerte oben auf der Treppe, wo ich meine Mutter herumgeschleudert hatte, in einem Anfall aus Liebe und Wut, der uns beide aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Sie schmorte in dem erstickenden Sarg von einem Schlafzimmer, wo ich gelegen hatte mit einem von Hunger verkrampften Magen, den Kopf voller Rachegedanken gegen den Mann, der mich ohne Abendessen ins Bett geschickt hatte, der meine Mutter und mich so hatte enden lassen.
Es war alles da, natürlich kleiner, wie durch das falsche Ende eines Teleskops gesehen. Es stimmte alles, die Bilder der Filmschauspieler und königlicher Familienmitglieder über der Stelle, an der Annes Bett gestanden hatte, der Wasserkessel auf dem Herd, das Küchenhandtuch, das neben dem Ausguß hing. Otto hatte viel Zeit gehabt, die Details zu kontrollieren, bevor er starb. Und zugleich war auch alles falsch. Es war falsch auf die Art, wie meine Erinnerungen in all diesen Jahren richtig waren, sogar wenn ich mich falsch erinnerte. Statt der Stille, die wir wahrgenommen hatten, gab es jetzt das Getrappel der Schuhe aus einem Dutzend verschiedener Länder und das »Entschuldigung« und »Danke« in verschiedenen Sprachen und das respektvolle Flüstern der Ehrfurcht und des Entsetzens. Aber diese Menschen wußten gar nicht, was Flüstern war, weil sie keine Ahnung hatten, was für ein Unheil ein unerwarteter Laut verursachen konnte. Statt des scharfen Geruchs menschlicher Angst war jetzt der schale Geruch nach Schweiß wahrzunehmen. Das Böse war nicht mehr als der Schatten, auf einen Vorhang gemalt. Alles war geschickt geplant und fachmännisch ausgeführt, aber nichts war wahr. Nichts war so schlimm, wie ich es in meinem Kopf hatte.
Ich ging hinaus und blieb einen Moment lang mit dem Rücken zum Haus stehen, um mich wieder zu fassen. Ein aschgrauer Dunst hatte sich über die Stadt gesenkt. Ich hatte vergessen, wie früh es im Winter in Amsterdam dunkel wird. Ein kalter Wind strich über den ölig schwarzen Kanal. Die letzten Touristen strömten an mir vorbei, ihre feierlichen Masken zerbrachen in der frischen Luft, ihre Stimmen erhoben sich in schwindliger Erleichterung, entkommen zu sein.
Ich wandte mich nach links und ging die Prinsengracht entlang. Als ich vor der Westerkerk um die Ecke bog, begannen die Glocken zu läuten. Im Hinterhaus war das Geräusch ohrenbetäubend gewesen, bis die Glocken
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