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Der Junge, der mit den Piranhas schwamm

Der Junge, der mit den Piranhas schwamm

Titel: Der Junge, der mit den Piranhas schwamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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sich und lächeln und lassen sich von der Verrücktheit des Mondes bescheinen.

Sechsundzwanzig
    Es ist mitten in der Nacht und Stan liegt im Bett, aber er ist hellwach. Hinter dem Wohnwagenfenster blitzen und tanzen immer noch die Lichter des Jahrmarkts. Auch der Mond strahlt noch hell vom Himmel. Das Fischbecken steht neben seinem Bett. Darin blitzt und tanzt es ebenfalls: die Fische vom Goldfisch-Lieferanten. Stan fühlt die Erregung und die Freude des dreizehnten Fisches, der zwischen den neuen hin und her schwimmt. Willkommen , hört er, willkommen, meine Gefährten . Er hört noch etwas anderes, etwas viel Traurigeres, ein Schniefen, ein Keuchen irgendwo in der Nähe. Er lauscht. Es kommt von hier, aus dem Inneren des Wohnwagens.
    „Nitascha?“, flüstert er. „Nitascha?“
    Keine Antwort. Aber das Keuchen und Schniefen geht weiter. Er kriecht aus seinem schmalen Bett und geht in den hinteren Teil des Wohnwagens, wo hinter einer Abtrennung aus dünnem Holz ihr Bett steht. Er klopft leise.
    „Nitascha? Alles in Ordnung, Nitascha?“
    „Zieh Leine.“
    Das Schniefen geht wieder los. Er hört sie schluchzen.
    „Nitascha.“
    „Zieh Leine. Was geht’s dich an?“
    „Darf ich reinkommen?“
    Keine Antwort. Er schiebt die Abtrennung zur Seite und huscht in ihr winziges Zimmerchen.
    „Was ist los?“, flüstert er.
    Nitascha zieht sich die Decke über den Kopf und dann langsam wieder weg, sodass nur ihre Nase und ihr Mund zu sehen sind.
    „Sie war wunderschön“, flüstert sie.
    „Ganz bestimmt.“
    „Aber sie hat mich nicht lieb gehabt.“
    „Aber doch, ganz bestimmt!“
    „Warum ist sie dann weggegangen, wenn sie mich lieb hatte?“
    „Ich weiß es nicht“, flüstert Stan, aber er weiß, dass auch er Menschen verlassen hat, die er liebt.
    Nitascha zieht die Decke ein bisschen mehr weg. Stan blickt in ihre Augen.
    „Es ist alles so fürchterlich“, sagt sie.
    „Das stimmt nicht“, sagt er. „Oder zumindest muss es nicht so sein.“ Er schaut zur Seite. Was soll er bloß machen? Er hat keine Ahnung. Wie soll er Nitascha helfen? Er ist doch selbst bloß ein Kind.
    „Du hast doch deinen Papa“, flüstert er schließlich.
    „Der? Der kann mich nicht leiden. Er liebt dich mehr als mich.“
    „Das stimmt nicht“, sagt Stan.
    „Er wünscht sich, dass du sein Kind wärst und nicht ich.“
    „Das tut er nicht.“
    „Und er hat ja Recht. Ich war früher so nett, aber jetzt nicht mehr. Ich bin faul und hässlich und fett und zu nichts gut. Niemand will etwas mit mir zu tun haben. Jetzt lass mich in Ruhe.“
    „Vielleicht könntest du etwas tun“, schlägt Stan vor. „Du könntest bei der Entenbude helfen.“
    „Bei der Entenbude helfen? Pah! Eines Tages habe ich meine eigene Nummer, und dann brauche ich ihn nicht mehr und sie auch nicht und dich erst recht nicht und ich brauche niemanden mehr. Nie mehr.“
    „Was meinst du damit: Eines Tages hast du deine eigene Nummer?“
    „Ich werde immer hässlicher und hässlicher und böser und böser und fetter und fetter und ich werde mir einen Bart wachsen lassen und mir ein Zelt kaufen und dann bin ich die hässlichste, fetteste bärtige Dame aller Zeiten.“
    „Ach, Nitascha“, sagt Stan.
    „Ach, Nitascha – was?“
    „Ach, Nitascha, du könntest so hübsch und so lieb sein. Gestern Abend am Feuer, da …“
    „Das ist mein Plan“, sagt Nitascha. „Ich werde ein Freak sein. Ich werde einen Haufen Geld verdienen. Dann brauche ich niemanden mehr.“
    „Ach, Nitascha.“
    „Nichts‚ ach, Nitascha!‘ Jetzt geh weg.“ Und damit zieht sie wieder die Decke über sich.
    Stan wendet sich zum Gehen. „Ich schaue mir morgen die Nummer von Pancho Pirelli an“, sagt er.
    „Na toll!“, schnaubt es unter der Bettdecke.
    „Du könntest mitkommen.“
    „Warum? Damit dich die Leute mit einem Freak zusammen sehen können?“
    Stan zögert. „Nein“, sagt er, „damit die Leute mich mit einem Mädchen sehen können, das wie eine Schwester für mich ist.“
    Nitascha hebt die Bettdecke hoch und starrt ihn an. „Du hast ’nen Knall“, sagt sie. „Red nicht so einen Blödsinn. Geh ins Bett.“
    Stan huscht zu seinem schmalen Bett und klettert hinein. Er blickt zu Dostojewski hinüber. Die Augen des Mannes sind offen und glänzen vor Tränen. Ein Schluchzen, dann wieder Stille und später, viel später, ein leises Flüstern von Nitascha.
    „Hast du das ernst gemeint?“
    „Was?“
    „Das mit der Schwester.“
    „Natürlich“, sagt

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