Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
Stockwerke tiefer stiegen ein Mann und eine Frau zu. Sie trug ein Parfüm, daß es Tom schauderte, obwohl es vielleicht sogar teuer gewesen war – ihr gelb und blau gestreiftes Kleid wirkte alles andere als billig, und ihre schwarzen Glanzlederpumps erinnerten Tom an den Halbstiefel, den er in der Berliner Wohnung der Entführer verloren hatte. Oder waren es beide gewesen? Ein Fund, der die Nachbarn oder die Polizei überraschen dürfte. Unten in der Halle ging Tom ihre Koffer holen, aber erst draußen auf dem Bürgersteig konnte er wieder frei atmen. Der Portier rief ihnen ein Taxi. Gleich darauf hielt eines, zwei Frauen stiegen aus, Tom und der Junge stiegen ein. Sie konnten den 14:18 vom Gare de Lyon noch bequem erreichen. Das wäre gut, würde es ihnen doch die öde Warterei auf den nächsten Zug ersparen, der erst gegen fünf Uhr fuhr. Der Junge starrte angestrengt und verträumt zugleich zum Fenster hinaus; sein versteinerter Körper erinnerte Tom an eine Statue, an einen der Erzengel, die manchmal wie betäubt die Portale von Kirchen stützen. Am Bahnhof kaufte er zwei Fahrkarten erster Klasse und eine Le Monde am Zeitungskiosk auf dem Bahnsteig.
Als der Zug anfuhr, holte der Junge ein Taschenbuch hervor, das er in einem Hamburger Buchladen gekauft hatte (Tom wußte das noch): The Country Diary of an Edwardian Lady – ausgerechnet so etwas. Tom überflog seine Le Monde, las eine Kolumne über die gauchistes, die nichts Neues brachte, breitete die Zeitung auf dem Sitz neben Frank aus und legte die Füße hoch. Frank sah ihn nicht an. Tat er nur so, als sei er ins Buch vertieft?
»Gibt es irgendeinen Grund, warum…« Die restlichen Worte des Jungen gingen im Rattern des Zuges unter. Tom beugte sich vor: »Warum was?«
Frank fragte ernsthaft: »Gibt es einen einfachen Grund, warum der Kommunismus nicht funktioniert?«
Tom fürchtete, es könnte noch lauter werden, weil der rasende Zug demnächst würde halten und bremsen müssen. Auf der anderen Seite des Ganges heulte ein kleines Kind und bekam vom Vater einen sanften Klaps. »Wie kommst du denn darauf? Durch das Buch?«
»Nein, nein – Berlin.« Der Junge runzelte die Stirn.
Tom holte tief Luft. Er haßte es, gegen den Lärm anschreien zu müssen. »Er funktioniert ja. Der Sozialismus wenigstens. Was fehlt, ist der Ehrgeiz des einzelnen – so sagt man. Die heutige russische Variante erlaubt nicht genug Eigeninitiative, also verlieren alle den Mut.« Tom sah sich um und war froh, daß niemand seinem improvisierten Vortrag folgte. »Es gibt einen Unterschied –«
»Vor einem Jahr dachte ich, daß ich Kommunist wäre. Ja, sogar moskautreu. Kommt darauf an, was man liest. Wenn man die richtigen Sachen liest…«
Was meinte Frank mit den »richtigen Sachen«? »Würdest du –«
»Warum brauchen die Russen die Mauer?« unterbrach ihn Frank mit düsterer Miene.
»Tja, das ist das Problem: Entscheidungsfreiheit… Selbst heutzutage kann man versuchen, Bürger eines kommunistischen Landes zu werden, wahrscheinlich gelingt das auch. Aber versuch nur mal, ein solches Land zu verlassen, wenn du dort lebst!«
»Das ist so – ungerecht!«
Tom schüttelte den Kopf. Der Zug ratterte weiter, als läge Melun schon hinter ihnen. Doch das war unmöglich. Er war froh über Franks naive Fragen – wie sollte ein Junge sonst etwas lernen? Wieder beugte er sich vor: »Du hast doch die Mauer gesehen. Die Absperrungen sind auf ihrer Seite, dennoch behaupten sie, die Mauer hätten sie gebaut, damit die Kapitalisten draußen bleiben… Aber selbstverständlich, es hätte wunderbar sein können. Rußland hat sich erst nach und nach in einen Polizeistaat verwandelt. Die glauben anscheinend, daß sie ohne all die Kontrolle ihrer Bürger nicht auskommen.« Wie nun zum Schluß finden, fragte sich Tom. Jesus Christus war früher Kommunist gewesen. »Doch die Idee ist natürlich großartig !« schrie er. War das der Weg, die Jugend zu belehren? Banalitäten zu brüllen?
Melun. Der Junge vertiefte sich wieder in sein Buch, kurz darauf zeigte er auf eine Passage: »Die wachsen in unserem Garten. In Maine. Mein Vater hat sie aus England kommen lassen.«
Tom las etwas über eine englische Wildblume, von der er noch nie gehört hatte: gelb, manchmal auch purpurrot, blühte zu Anfang des Frühlings. Er nickte – und machte sich Sorgen, grübelte über alles mögliche, also über nichts, wie ihm klar wurde, nichts jedenfalls, was nützlich oder sinnvoll wäre.
In Moret stiegen
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