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Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)

Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)

Titel: Der Junge, der Ripley folgte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Highsmith
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einem Seitenfenster sah Tom zu, wie er den Rasen überquerte, sich hüpfend und springend durch das Unterholz kämpfte, einmal stolperte, fiel und geschmeidig wie ein Akrobat wieder aufsprang. Er nahm den schmalen Waldweg nach rechts und verschwand zwischen den Bäumen.
    Kurz darauf schaltete Tom sein Kofferradio an – einmal, weil er die französischen Drei-Uhr-Nachrichten nicht verpassen wollte, dann aber auch, weil er sich nach Franks Geschichte auf andere Gedanken bringen mußte. Schon erstaunlich, daß der Junge während der Erzählung so gut durchgehalten hatte. Ob der Zusammenbruch noch kommen würde? Oder war er bereits gekommen, in der Nacht, vielleicht lange zuvor, als der Junge in London war oder allein in Madame Boutins Gartenhaus und voller Schrecken an die Strafe dachte, die ihn von fremder Hand ereilen könnte? Oder hatten die wenigen Tränen heute vor dem Mittagessen ausgereicht? In New York gab es Jungen (und Mädchen) um die zehn Jahre, die in ihren Banden schon Morde mit angesehen, Gleichaltrige oder irgendwelche Unbekannten umgebracht hatten, doch so einer war Frank nicht gerade. Eine Schuld, wie er sie trug, würde sich zeigen, irgendwie, irgendwann. Tom glaubte, daß sich jedes starke Gefühl wie Liebe, Haß oder Eifersucht am Ende in einer Handlung verriet, und zwar nicht in Form einer entsprechenden Geste, nicht immer so, wie der Schuldige oder andere es erwarten mochten.
    Tom konnte keine Ruhe finden. Er ging nach unten, um mit Madame Annette zu sprechen, die gerade vor der grausigen Aufgabe stand, einen lebenden Hummer in einen großen Topf kochenden Wassers zu werfen. Sie hielt das Tier in den Dampf; der Hummer zappelte mit den Beinen, und Tom wich auf der Schwelle zurück. Seine Geste deutete an, er werde kurz im Wohnzimmer warten.
    Madame Annette schenkte ihm ein verständnisvolles Lächeln, kannte sie doch diese Reaktion bei ihm.
    Hatte er den Hummer nicht protestierend zischen hören? Hatte er nicht in ebendiesem Augenblick mit einem hochempfindlichen Teil seines Gehörs einen Schrei der Wut und des Schmerzes aus der Küche vernommen, ein letztes, hohes Kreischen, als das Leben erlosch? Wo hatte das armselige Tier genächtigt, das Madame Annette schon letzten Freitag gekauft haben mußte, von dem Fischhändler, der seinen Kleinlaster, eine poissonnerie auf Rädern, in Villeperce parkte? Dieser Hummer war groß, anders als die kleinen Krustentiere, die Tom im Kühlschrank gesehen hatte, wo sie vergeblich zappelnd von den Regalstangen hingen. Als Tom den Topfdeckel klappern hörte, ging er zur Küche zurück, den Kopf ein wenig gesenkt.
    »Ach, Madame Annette«, sagte er. »Ist nicht weiter wichtig, nur…«
    »Oh, Monsieur Tomme, Sie sorgen sich immer so wegen der Hummer! Sogar wegen der Muscheln, nicht?« Sie lachte herzhaft. »Ich sage immer zu meinen Freundinnen – mes copines, Geneviève und Marie-Louise…« Zwei andere Dienerinnen der feinen Leute von Villeperce, die Madame Annette beim Einkaufen traf. Manchmal verabredeten sie sich zu einem Fernsehabend, wenn eine gute Sendung kam. Alle drei hatten einen Apparat, und sie besuchten einander reihum.
    Tom nickte höflich lächelnd, ein Eingeständnis seiner Schwäche. »Habe nicht den Magen dafür«, sagte er auf französisch, ein sinnloser Satz, wie ihm klar wurde, denn eigentlich meinte er, daß er nicht die Nerven dafür habe oder daß es ihm den Magen umdrehe. Egal. »Madame Annette, morgen kommt noch ein Gast, aber er bleibt nur eine Nacht, bis Montag morgen. Ein Herr. Ich hole ihn gegen halb neun zum Abendessen ab. Er bekommt das Zimmer des jungen Mannes, ich schlafe bei meiner Frau und Monsieur Billy in meinem Zimmer. Ich werde Sie morgen daran erinnern.« Doch er wußte, das würde nicht nötig sein.
    »Gut, Monsieur Tomme. Noch ein Amerikaner?«
    »Nein, er ist – Europäer.« Tom zuckte die Achseln. Er meinte den Hummer riechen zu können und verließ die Küche. » Merci, Madame.«
    Er ging auf sein Zimmer und hörte die 3-Uhr-Nachrichten eines französischen Popsenders: Kein Wort über Frank Pierson. Nach den Nachrichten wurde ihm bewußt, daß jetzt genau eine halbe Stunde verstrichen war, seit Frank gegangen war. Tom schaute noch einmal zum Seitenfenster hinaus: Kein Mensch zu sehen im Wald hinter dem Garten. Er wartete, zündete sich eine Zigarette an, trat wieder ans Fenster. Sieben nach drei.
    Kein Grund zur Sorge, sagte er sich. Zehn Minuten mehr oder weniger, was machte das schon? Wer nutzte überhaupt diesen

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