Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
getötet?« fragte er.
Tom trat näher ans Sofa, um sich zu entspannen, aber auch, um weiter von Madame Annettes Zimmer wegzukommen. »Ja, das habe ich.«
»Mehr als einen?«
»Ehrlich gesagt, ja.« Der Junge mußte sein Dossier im Zeitungsarchiv der New Yorker Bibliothek ziemlich gründlich durchforstet und sich außerdem seine eigenen Gedanken gemacht haben. Verdächtigungen, Gerüchte, mehr war da nicht, das wußte Tom; nie war er direkt beschuldigt worden. Bei Bernard Tufts’ Tod, einem Sturz von einem Felsen bei Salzburg, war Tom einer Anklage nur knapp entgangen, knapper als je zuvor – was merkwürdig war, denn Bernard, Friede seiner verwirrten Seele, hatte Selbstmord begangen.
»Ich glaube, ich habe noch gar nicht ganz begriffen, was ich getan habe.« Franks Flüstern war kaum vernehmbar. Nun ruhte sein linker Unterarm auf der Sofalehne, eine entspanntere Haltung als kurz zuvor, dabei war er alles andere als entspannt. »Begreift man es jemals wirklich?«
Tom zuckte die Achseln. »Vielleicht ertragen wir das nicht.« Das »wir« hatte für ihn in diesem Moment eine besondere Bedeutung: Er sprach nicht mit einem Berufskiller, und er hatte etliche getroffen.
»Ich habe diese Platte wieder aufgelegt, hoffentlich stört es Sie nicht. Teresa und ich haben sie oft gehört. Wir haben sie beide, deshalb…«
Der Junge konnte nicht weitersprechen, doch Tom verstand, und er war froh, auf Franks Gesicht eher etwas wie Selbstvertrauen zu sehen, ja sogar ein schwaches Lächeln, als die Tränen eines bevorstehenden Zusammenbruchs. Warum rufst du Teresa nicht gleich einmal an, wollte er sagen, stellst die Musik laut und sagst ihr, daß es dir gut geht und du nach Hause kommst? Doch das hatte er ihm schon gesagt, und es hatte zu nichts geführt. Tom zog einen Polstersessel heran. »Weißt du, Frank, wenn dich niemand verdächtigt, gibt es keinen Grund, dich zu verstecken. Vielleicht kannst du jetzt, da du alles aufgeschrieben hast, nach Hause zurückkehren – und zwar schon bald. Meinst du nicht?«
Der Junge sah Tom in die Augen. »Ich muß einfach noch ein paar Tage bei Ihnen bleiben. Ich werde arbeiten, okay? Ich will hier niemandem zur Last fallen. Aber vielleicht denken Sie, ich bringe Sie irgendwie in Gefahr?«
»Nein.« Tom dachte das manchmal, doch wodurch, hätte er nicht genau sagen können, nur daß der Name Pierson gefährlich war, weil er bei Entführern Interesse weckte. »Bis nächste Woche besorge ich dir einen neuen Paß. Auf einen anderen Namen.«
Frank lächelte wie über ein unerwartetes Geschenk. »Wirklich? Wie machen Sie das?«
Wieder warf Tom einen überflüssigen Blick zur Küche hinüber. »Fahren wir am Montag nach Paris, wegen eines neuen Fotos. Der Paß wird in – Hamburg angefertigt.« Gewöhnlich gab er Reeves Minot, seine Hamburger Verbindung, nicht preis. »Ich habe ihn heute bestellt. Der Anruf beim Essen. Du bekommst einen amerikanischen Paß auf einen anderen Namen.«
»Toll!« sagte Frank.
Der nächste Song ertönte, ein anderer, einfacherer Rhythmus. Tom beobachtete den Jungen, sein verträumtes Gesicht. Ob er an die neue Identität dachte, die er bekommen würde, oder an das hübsche Mädchen, Teresa? »Ist Teresa auch in dich verliebt?« fragte Tom.
Frank zog einen Mundwinkel hoch, fast zu einem schiefen Grinsen. »Sie sagt es nicht direkt. Einmal schon, doch das war vor Wochen. Aber da sind ein paar andere Typen – nicht daß sie die mag, doch sie sind immer da. Ich weiß das, weil ihre Familie ein Haus bei Bar Harbor hat – ich glaube, das sagte ich schon – und eine Wohnung in der Stadt. Deshalb weiß ich es. Ist besser, ich rede nicht groß über meine Gefühle, weder mit ihr noch mit sonstwem. Doch sie weiß Bescheid.«
»Ist sie deine einzige Freundin?«
»O ja.« Frank lächelte. »Zwei Mädchen gleichzeitig gern zu haben, das kann ich mir nicht vorstellen. Vielleicht für sie zu schwärmen. Aber mehr eigentlich nicht.«
Tom überließ ihn seiner Musik.
Er lag im Pyjama auf dem Bett und las Christopher Isherwoods Christopher and his Kind, als er hörte, wie ein Auto in Belle Ombres Vorhof einbog. Héloïse. Tom sah auf die Uhr: fünf Minuten vor Mitternacht. Frank war immer noch unten, spielte seine Platten, wohl wie in Trance, einer ganz eigenen und hoffentlich glücklichen. Der Motor heulte auf und erstarb. Tom wurde klar, daß es nicht Héloïse sein konnte. Er sprang auf, griff nach seinem Morgenmantel und schlüpfte auf dem Weg nach unten hinein. Er
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