Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
letzten elf Jahren konnte er nicht mehr laufen, weil ihn ein »Geschäftsfeind« erschießen wollte. Wie schlimm ist das wirklich, was ich getan habe?
Diese Zeilen schreibe ich nur an T.R., denn er ist der einzige Mensch auf der Welt, dem ich das alles erzählen kann. Ich weiß, daß er mich nicht verabscheut, weil ich in diesem Augenblick unter seinem Dach wohne und er mir seine Gastfreundschaft gewährt.
Ich will frei sein und mich frei fühlen. Ich will einfach nur frei und ich selber sein, was immer das heißt. T.R. ist frei, glaube ich, frei in seinen Anschauungen, ein freier Geist. Auch scheint er mir freundlich und höflich zu anderen Menschen. Ich denke, hier sollte ich Schluß machen. Vielleicht ist es genug.
Musik ist gut, jede Art von Musik, Klassik oder andere. Nicht eingesperrt zu sein, auf welche Art auch immer, das ist gut. Andere nicht zu gängeln, das ist gut.
Frank Pierson
Die Unterschrift war klar und leserlich; Frank hatte versucht, sie schwungvoll zu unterstreichen. Was er vermutlich sonst nicht tat.
Tom war gerührt, allerdings hatte er auf eine Schilderung ebenjenes Augenblicks gehofft, da der Junge seinen Vater in den Abgrund stieß. Hatte er sich zuviel erhofft? Hatte der Junge diesen Moment der Gewalt aus seinem Gedächtnis gelöscht, oder konnte er ihn einfach nicht in Worte fassen – denn das würde ebenso eine Analyse erfordern wie eine Beschreibung der konkreten Tat. Wahrscheinlich hinderte ihn ein gesunder Selbsterhaltungstrieb daran, in Gedanken zu jenem Augenblick zurückzukehren. Und Tom mußte zugeben, daß er selbst wenig Wert darauf legte, die sieben oder acht Morde zu analysieren oder wieder zu durchleben, die er begangen hatte: Der erste war sicher der schlimmste gewesen, der Mord an Dickie Greenleaf, als er den jungen Mann mit einem Ruderblatt erschlagen hatte. Ein seltsames Geheimnis, und auch ein Grauen, lag stets darüber, einem anderen das Leben zu nehmen. Womöglich wollten die Menschen dem nicht ins Gesicht sehen, weil sie es einfach nicht verstanden. Wenn man Berufskiller war, dachte Tom, mußte es leicht sein, jemanden umzubringen – ein Bandenmitglied auszuschalten oder einen politischen Gegner, den man nicht kannte. Er aber hatte Dickie sehr gut gekannt, und Frank seinen Vater auch. Daher kam womöglich die Bewußtseinslücke des Jungen. Jedenfalls hatte er nicht vor, ihn weiter auszufragen.
Andererseits würde der Junge gespannt sein zu hören, was Tom von seinem Bericht hielt, würde wahrscheinlich ein lobendes Wort wollen, wenigstens für seine Ehrlichkeit, und Tom spürte, daß Frank sich darum ernsthaft bemüht hatte.
Jetzt saß der Junge im Wohnzimmer. Nach dem Abendessen hatte Tom den Fernseher für ihn eingeschaltet, aber Frank hatte sich offenbar gelangweilt (was an einem Samstagabend mehr als wahrscheinlich war), denn er hatte wieder Lou Reed gespielt, wenn auch nicht so laut wie Héloïse. Tom ging hinunter. Den Bericht ließ er liegen.
Der Junge lag auf dem gelben Sofa, die Füße sorgsam über die Seitenlehne gestreckt, um den Satin nicht zu beschmutzen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen. Er hatte Tom nicht einmal herunterkommen hören. Oder war er eingeschlafen?
»Billy?« sagte Tom. Wieder versuchte er, sich das »Billy« einzuprägen, für den Fall, daß es nötig sein sollte. Wie lang würde das sein?
Sofort setzte sich der Junge auf. »Ja, Sir?«
»Ich finde sehr gut, was du bislang geschrieben hast. Soweit ist es interessant.«
»Ach ja? – Und was meinen Sie mit ›soweit‹?«
»Ich hatte gehofft…« Tom warf einen Blick zur Küche hinüber, sah aber durch die angelehnte Tür, daß dort kein Licht mehr brannte. Dennoch, er hatte beschlossen, nicht weiter zu bohren. Warum einem Sechzehnjährigen die eigenen Gedanken aufzwingen? »Aber der Augenblick der Tat, als du zum Rand der Klippe vorgestürzt bist…«
Der Junge schüttelte kurz den Kopf. »Kaum zu glauben, daß ich nicht mit hinabgestürzt bin. Das muß ich oft denken.«
Tom glaubte das wohl, aber das meinte er nicht, sondern die Erkenntnis, daß er dem Leben eines Menschen ein Ende gesetzt hatte. Wenn der Junge diesem Mysterium oder der damit verbundenen Verwirrung bislang hatte entfliehen können – um so besser vielleicht, denn was nützte es, darüber zu brüten, es schließlich und endlich gar zu verstehen? War das überhaupt möglich?
Frank wartete auf ein weiteres Wort von Tom, doch der schwieg.
»Haben Sie je einen Menschen
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