Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
nicht wechseln. Frank wollte offenbar lieber in seiner schlafen, und Madame Annette hatte das wohl ganz vernünftig gefunden.
» Monsieur Tomme, sind Sie und der junge Mann bis heute abend zurück?«
»Ja, rechtzeitig zum Abendessen, denke ich.« Tom hörte das Postauto, die Handbremse. Er holte einen alten blauen Blazer, der ihm immer ein bißchen zu klein gewesen war, aus dem Schrank in seinem Zimmer, weil er auf dem Paßbild nicht das Tweedjackett mit dem interessanten Rhombenmuster sehen wollte, das der Junge heute trug.
Sein Blick fiel auf die unten im Schrank stehenden Schuhe: Alle auf Hochglanz poliert und aufgereiht wie Soldaten! Nie hatte er solchen Schimmer auf den Gucci-Mokassins gesehen, nie so warmen Glanz auf den Cordovans. Selbst seine Lackleder-Abendslipper mit den albernen Seidenripsschleifchen waren frisch poliert. Das war der Junge gewesen, soviel stand fest. Madame Annette ging gelegentlich mit der Bürste darüber, aber so ein Aufwand – kein Vergleich. Tom war beeindruckt. Frank Pierson, der Multimillionenerbe, putzte seine Schuhe selber! Er schloß die Schranktür und nahm den Blazer mit hinunter.
Nichts Wichtiges in der Post; ein paar Briefe von der Bank, die er gar nicht erst aufmachte, einer an Héloïse, handschriftlich adressiert von ihrer Freundin Noëlle. Er riß das braune Streifband von der Tribune. Frank war noch im Wohnzimmer, und Tom sagte: »Hier, das ist für dich, statt der Tweedjacke. Ein altes Stück von mir.«
Sorgsam und mit sichtlichem Behagen schlüpfte Frank in den Blazer. Die Ärmel waren ein bißchen zu lang, doch der Junge reckte vorsichtig die Schultern und sagte: »Einfach toll. Danke!«
»Du kannst ihn behalten.«
Frank lächelte noch breiter. »Vielen Dank, ehrlich. Entschuldigung, bin gleich wieder da.« Er lief nach oben.
Tom überflog die Zeitung und fand eine kurze Meldung unten auf der zweiten Seite. »Pierson-Familie schickt Privatdetektiv« war die nüchterne Überschrift. Kein Foto. Der Text lautete:
Mrs. Lily Pierson, die Witwe des verstorbenen Lebensmittelmagnaten John J. Pierson, hat einen Privatdetektiv nach Europa geschickt, der nach ihrem vermißten Sohn Frank (16) suchen soll. Der Junge war Ende Juli aus dem Familiendomizil in Maine verschwunden; seine Spur konnte bis nach London und Paris verfolgt werden. Der Detektiv wird von ihrem älteren Sohn John (19) begleitet, dessen Paß der jüngere Bruder aus dem Haus mitgenommen hat. Die Suche dürfte in und um Paris beginnen. Eine Entführung wird bislang nicht vermutet.
Tom las das mit einem unguten Gefühl, einer Art Verlegenheit. Doch was sollte schon passieren, falls sie dem Bruder und dem Detektiv heute über den Weg liefen? Er würde dem Jungen nichts von der Meldung sagen und die Zeitung zu Hause lassen. Héloïse warf gewöhnlich kaum einen Blick hinein, könnte sie aber möglicherweise doch vermissen, falls er sie mitnahm und wegwarf. Was aber würden die französischen Zeitungen über den Privatdetektiv und den älteren Bruder schreiben? Und würden sie Franks Foto noch einmal bringen?
Der Junge war fertig. Tom ging hinauf, um Héloïse au revoir zu sagen.
»Du hättest mich mitnehmen können«, maulte sie.
Der zweite Mißton dieses Morgens. Das sah ihr gar nicht ähnlich, denn sie hatte immer etwas vor. »Das hättest du besser gestern abend gesagt.« Sie trug blau und rosa gestreifte Jeans, dazu eine ärmellose rosarote Bluse. Wer so hübsch war wie Héloïse, konnte im August alles in Paris tragen, aber Tom wollte nicht, daß sie von dem Paßfoto erfuhr, das er für Frank machen lassen wollte. »Wir gehen ins Beaubourg. Die Ausstellung hast du mit Noëlle schon gesehen.«
»Was ist los mit dem Jungen?« Fragend zog sie die blonden Augenbrauen hoch.
»Was soll mit ihm los sein?«
»Irgendwas scheint ihm Kummer zu machen. Und dich betet er offenbar an. Ist er une tapette ?«
Ein Schwuler, hieß das. »Nicht daß ich wüßte. Glaubst du?«
»Wie lange will er bleiben? Seit fast einer Woche ist er bei uns, nicht?«
»Ich weiß, daß er heute zu einem Reisebüro gehen will. In Paris. Er hat von Rom geredet. Noch diese Woche wird er abreisen.« Tom lächelte. »Wiedersehen, chérie. Gegen sieben bin ich zurück.«
Als er das Haus verließ, nahm er die Tribune vom Tisch, faltete sie zusammen und steckte sie in seine Gesäßtasche.
8
Tom nahm den Renault, auch wenn ihm der Mercedes lieber gewesen wäre. Er machte sich Vorwürfe, weil er Héloïse nicht gefragt hatte, ob sie
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