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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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einer meiner Lieblingsausdrücke von Leuten. Ich finde, es passt sehr gut, weil ein Wasserfall so laut ist, dass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Obwohl es eigentlich bedeutet, dass man pausenlos redet und keinen anderen was sagen lässt. Aber neben einem Wasserfall fällt das Reden auch ziemlich schwer.
    Kat, Salim und ich liefen voraus. Ich war am nächsten am Bordstein dran und sprang über die Rillen zwischen den Pflastersteinen und um die Laternenmasten herum, mit den Händen in den Hosentaschen. So laufe ich am liebsten, wenn ich mit anderen Leuten unterwegs bin.
    Wir kamen an der Kaserne vorbei. Salim meinte, das sei aber hoch, und ich meinte, dass das Gebäude vierundzwanzigStockwerke hätte, und Kat meinte, dass es irgendwann demnächst von unserem Vater plattgemacht werden würde.
    Â»Nein«, sagte Salim.
    Â»Doch«, sagte Kat.
    Â»Wieso muss es denn weg?«
    Â»Dad sagt, es war voll bis oben hin mit Drogen und Nadeln und selbstmordgefährdeten Müttern. Und Küchenschaben.«  
    Â»Igitt.«
    Â»Genau. Und der Briefträger wollte die Post dort nicht mehr ausliefern.«
    Salim blickte hinüber. »Ganz schön hoch.«
    Kat deutete auf einen anderen hohen Turm. »Da drüben arbeitet unsere Mutter, Salim. Das ist der Guy’s Tower.«
    Â»Nie im Leben.«
    Â»Und ob.«
    Der Turm war silbern und hoch und ich merkte, dass Salim von London beeindruckt war, weil er die Hochhäuser mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund anstarrte. Dann mussten wir hinunter in die U-Bahn. Kat und Salim saßen nebeneinander und ich saß zwei Plätze weiter zwischen zwei Leuten, die ich nicht kannte. Ich kreuzte die Arme über der Brust, damit meine Hand aufhörte zu flattern und zu schlackern, was eine Angewohnheit ist, die ich mir abgewöhnen muss, sagt Mr Shepherd. Ich starrte auf die Karte vom Londoner U-Bahn-Netz, eine topologische Karte übrigens. Eine topologische Karte ist eine stark vereinfachte Karte, nicht maßstabsgetreu, also ohne Bezug zu den tatsächlichen Entfernungen. Die Punkte stellenBahnhöfe dar, wo man einsteigen oder aussteigen oder manchmal auch umsteigen kann, und sie sind auf geraden Linien angeordnet, die sich kreuzen, obwohl in Wirklichkeit alles durcheinanderläuft. Wenn ich neben Salim gesessen hätte, hätte ich über die unterschiedlichen Arten von Karten gesprochen und ihm erklärt, dass topo logische Karten nicht mit topo grafischen Karten zu verwechseln sind, aber als ich zu Salims Platz hinüberblickte, zeigte Kat ihm gerade den Silberlack auf ihren Fingernägeln und erkundigte sich nach seinem Sozialleben, was immer ihr Lieblingsthema ist. Ich versuchte herauszufinden, ob er sich langweilte. Wenn man gelangweilt ist, sagt Mr Shepherd, dann machen die Gesichtsmuskeln gar nichts und man starrt in der Gegend herum, ohne irgendwo richtig hinzugucken, und er meinte, ich soll immer nachprüfen, ob die Leute so gucken, wenn ich mich mit ihnen unterhalte. Salim lachte und stieß Kat mit dem Ellbogen in die Seite, woraus ich schloss, dass er sich nicht langweilte, obwohl das bei mir der Fall gewesen wäre.
    An der Embankment Station stiegen wir aus, um über eine der Golden-Jubilee-Brücken zu gehen und die Aussicht zu genießen. Der Himmel war blau, der Fluss war grau, das Riesenrad war weiß. Die Gondeln bewegten sich so langsam, dass sie sich fast gar nicht zu bewegen schienen.
    Mitten auf der Themse holte Salim eine altmodische Kamera, eine, für die man einen Film braucht, aus seiner Tasche.
    Â»Das ist eine interessante Kamera, Salim«, sagte Kat.
    Â»Meine Mutter hat sie mir geschenkt, weil ich nach New York mitkomme. Ich wollte eine digitale, aber sie meint, dassdie hier auf lange Sicht einen besseren Fotografen aus mir macht.«
    Dann fotografierte er alles in Sichtweite, auch Kat und mich, mit dem Riesenrad im Hintergrund. Nach der Knipserei klingelte sein Handy mit der James-Bond-Melodie, und Salim lehnte sich übers Brückengeländer und sprach hinein wie ein Agent in geheimer Mission, der nicht belauscht werden möchte.
    Â»Dieses Telefon!«, sagte Tante Gloria, als er das Gespräch beendet hatte und das Handy wieder zusammenklappte. »Wer war denn diesmal dran?«
    Â»Nur ein anderer Freund«, sagte Salim. »Der aus Manchester angerufen hat, um sich zu verabschieden. Kommt, lass uns los. Wir kommen zu spät.«
    Â»Zu spät

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