Der Junge, der sich in Luft auflöste
wäre genau meine Baustelle. Er hat letztes Schuljahr da mitgespielt.«
Kat lachte. »Das lesen wir in der Schule auch gerade. Mr Monyhan will immer, dass ich die Miranda lese, obwohl sie so eine dumme Schlampe ist.«
Ich dachte darüber nach. »Also ist es nicht deine Baustelle?«
»Auf keinen Fall.« Die Gondel war inzwischen schon kurz vor der höchsten Stelle. »Was hältst du denn von Tante Glo?«, fragte Kat.
Ich dachte daran, was Dad darüber gesagt hatte, dass Tante Gloria immer eine Spur der Verwüstung hinterlässt. Und dann fiel mir ein, wie sie gesagt hatte, dass ich so sei wie Andy Warhol, die Ikone der Moderne. »Weià ich nicht.«
»Ich auch nicht. Ich hab gehört, wie Dad zu Mum gesagt hat, dass Tante Glo ihn auf die Palme bringt. Und auf dem Kühlschrank habe ich zwei leere Flaschen Wein entdeckt.«
In meiner Vorstellung sah ich Tante Gloria unter einer Palme liegen und eisgekühlten Kokosnusssaft trinken. »Du meinst, sie bringt ihn genauso auf die Palme, wie ich dir auf den Wecker falle?«, fragte ich.
»Auf die Palme bringen, auf den Wecker fallen, um den Verstand bringen, den letzten Nerv töten. Was du willst.«
Sie lachte und ich lachte mit, um zu zeigen, dass ich sie verstanden hatte, obwohl ich eigentlich nicht so richtig kapierte, was denn lustig daran war, dass Dad wegen Tante Gloria das Gefühl hatte, verrückt zu werden.
Salims Gondel erreichte den höchsten Punkt und wir sagten beide gleichzeitig »JETZT!« und lachten zum zweiten Mal, und diesmal war mein Lachen echt. Wir hatten dieselbe Gondel beobachtet, genau die, in der Salim sich befand. Auf meiner Armbanduhr war es 11.47 Uhr. Er lag genau im Zeitplan und die Sonne lieà die Gondel am höchsten Punkt aufleuchten.
Langsam senkte sie sich um ein Viertel des Kreisumfangs. Mir fiel von unserer letzten Fahrt wieder ein, dass kurz vor der Landung automatisch ein Erinnerungsfoto geschossen wird. Die Riesenrad-Betreiber haben die Kamera so positioniert, dass jeder Fahrgast gut zu sehen ist, mit dem Big Ben im Hintergrund. Die Gondel hängt schon ziemlich niedrig, wenn das Foto gemacht wird. Ich sah, wie die dunklen Gestalten in Salims Gondel sich alle auf einer Seite aufstellten, der Nordostseite, in Richtung Kamera. Ich bemerkte sogar den Blitz.
Dann gingen wir zu der Stelle zurück, an der wir uns mit Salim verabredet hatten, und warteten darauf, dass seine Gondel landete. Genau um zwei Minuten nach zwölf kam sie unten wieder an. Die Türen der Gondel öffneten sich, und die Ersten, die herauskamen, waren eine Gruppe von sechs Japanern. Als Nächstes stiegen ein dickes Ehepaar mit zwei kleinen Söhnen aus, die ebenfalls dick waren, was wohl bedeutete, dass sie allesamt zu viele Fertiggerichte aÃen und ihre Ernährung umstellen mussten. Dann folgte das Mädchen mit der Flauschjacke, Arm in Arm mit seinem Freund. Dann ein groÃer stämmiger Mann im Regenmantel, der aussah, als würde er aus einem Nahverkehrszug aussteigen statt aus dem Londoner Riesenrad. Dann kam eine groÃe, dünne blonde Dame, die mit einem grauhaarigen Mann Händchen hielt, der viel kleiner war als sie. Und als Letztes stiegen zwei Afrikanerinnen mit wallenden bunten Kleidern aus, lachend, als kämen sie gerade vom Jahrmarkt. Sie hatten vier Kinder unterschiedlichen Alters bei sich, die sehr fröhlich aussahen.
Aber von Salim fehlte jede Spur.
Ich wusste sofort, dass irgendwas nicht stimmte.
»Hmpf«, machte ich.
Kat verzog das Gesicht. »Ich hätte schwören können, dass er in dieser Gondel war, mit den Japanern â¦Â« Die Fahrgäste zerstreuten sich in alle Richtungen. »Er muss in der nächsten sein.«
Wir warteten, aber er war nicht drin. Auch nicht in der nächsten und der übernächsten.
Ein unangenehmes Gefühl kroch mir die Speiseröhre rauf.
»Bleib hier«, sagte Kat und packte meine Hand. »Rühr dich nicht vom Fleck.«
Sie lieà mich los und rannte davon. Ich mochte es gar nicht, in solchen Menschenmengen allein gelassen zu werden. Ich zwinkerte die ganze Zeit, blickte mich um und hoffte, dass Salim sich rematerialisieren würde. Dann begann ich darüber nachzudenken, dass ich Kat ebenfalls verloren hatte. Und mir fiel ein, dass ich nicht wusste, wie ich Mum und Tante Gloria wiederfinden sollte. Was bedeutete, dass ich auch verloren war. Meine Hand schlackerte und ich
Weitere Kostenlose Bücher