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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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sich im Zimmer, »als du gemerkt hast, dass du ohne deine Kamera in die Gondel eingestiegen bist?«
    Ich versuchte wieder sie zurückzuerobern, aber Kat schlug meine Hand zur Seite. »Weg da, Ted! Ich hab sie gefunden!«
    Typisch Kat. Gerade sagt sie noch, wie toll ich denken kann, und zwei Sekunden später wird sie handgreiflich und erzählt Lügen. Was Kat tut, kann man nie wissen. Dagegen ist die Wettervorhersage einfacher, als bis drei zu zählen. Kat ist nicht nur unberechenbarer als das Wetter, sie ist sogar unberechenbarer als a) Vulkanausbrüche oder b) Verrückte oder c) Terroranschläge. Und es ist eine Tatsache, dass ihr Name genauso klingt wie die erste Silbe der folgenden Wörter:
    Â Â Â Â Katastrophe
    Â Â Â Â Kataklysmus
    Â Â Â Â Katatonie
    Alle diese Wörter bedeuten etwas Schlimmes. Anders gesagt: Kat ist eine wandelnde Katastrophe, was Kat immer von mir behauptet, wenn mir irgendwas herunterfällt, aber ich denke, dass es mehr auf sie zutrifft.
    Manchmal aber, wenn man es am wenigsten erwartet, ist Kat nett. Als ich noch klein war, hat sie mir immer Geschichten über sprechende Bären und verzauberte Schränke vorgelesen, ist mit mir zum Teich im Park gegangen, um mir die Entenküken zu zeigen. Und in der Schule würde sie mich jederzeit verteidigen, wenn die Fieslinge in der großen Pause auf mir herumhacken.
    Mum meint, Kat und mich verbindet eine Hassliebe. Sie sagt, als ich ein Baby war und Kat zwei Jahre alt, hätte sie Kat eines Tages dabei beobachtet, wie sie sich über meine Kinderkarre beugte und mein ganzes Gesicht mit Küssen bedeckte. Vielleicht habe ich mich ja gewunden, denn das Nächste, was sie tat, war Folgendes: Sie nahm eine Haarbürste und schlug sie mir über den Kopf. Um zu verhindern, dass Kat mich ermordete, musste Mum sie von mir wegzerren.
    Als wir älter wurden, ermahnte Mum uns immer, schön lieb miteinander zu spielen. Kats Vorstellung von »schön lieb« war, ihre nackten Barbiepuppen mit den wilden Frisuren und den seltsamen Kugelschreibermarkierungen alle in einer Reihe hinzulegen und Krankenhaus zu spielen. Sie benutzte Klopapierrollen als Verbandsmaterial, zerschnitt sie mit Nagelscheren und spritzte Tomatenketchup drauf. Ich musste immer helfen, weil der Patient gerade im Sterben lag. »Gib mir das Skalpell«, befahl sie dann.
    Â»Was für ein Skalpell?«
    Â»Irgendeins.«
    Ich schaute mich um. »Da ist kein Skalpell.«
    Â»Ein Tu-so-als-ob-Skalpell, Ted!«
    Â»Da ist kein Tu-so-als-ob-Skalpell, Kat.«
    Â»Doch. Genau neben deiner Hand.«
    Â»Kat. Da ist kein Skalpell neben meiner Hand. Nur eine Klopapierrolle.«
    Â»Du sollst doch die Krankenschwester sein!«, brüllte sie.
    Ich zwinkerte. Krankenschwestern sind normalerweise Frauen und ich war ein Junge. Also konnte ich keine Krankenschwester sein.
    Â»Versuch zu spielen, Ted!«, sagte Mum, die uns zuschaute.
    Also machte ich »Nä-NÄ, nä-NÄ, nä-NÄ!« und betätigte dabei den Lichtschalter. Seitdem war ich immer der Krankenwagen. Aber Kat wollte mich dauernd zur Krankenschwester machen, vielleicht ist sie deswegen immer noch wütend auf mich. Dann stellten die Ärzte irgendwann fest, dass ich dieses Syndrom habe.
    Â»Wieso muss er immer all die interessanten Krankheiten haben?«, beschwerte Kat sich bei unseren Eltern.
    Ich weiß nicht mehr, was sie geantwortet haben.
    Im Moment untersuchte Fräulein Katastrophe Salims Kamera und ich schluckte das ärgerliche, beleidigte Gefühl, das mir die Speiseröhre hinaufkroch, einfach wieder runter.
    Â»Er hat achtzehn Bilder gemacht«, sagte sie. »Er hat doch die ganze Zeit geknipst, als wir über die Brücke liefen, erinnerst du dich?«
    Â»Er hat eins von dir und mir gemacht, Kat. Und ich hab eins am Riesenrad gemacht, kurz bevor der fremde Mann zu uns kam, der uns die Karte gegeben hat.«
    Â»Der fremde Mann«, wiederholte Kat und hob den Kopf. »Ich frage mich …«
    Ich nickte. Über ihn hatte ich mir auch schon Gedanken gemacht.
    Â»Meinst du, dass die Fotos uns vielleicht weiterhelfen könnten, Ted?«
    Â»Ich weiß nicht.« Ich versuchte ein letztes Mal, die Kamera zu berühren, aber Kat hielt sie wieder von mir weg.
    Sie drehte den glatten, silbrigen Fotoapparat in ihrer Hand hin und her. »Zu blöd, dass es keine digitale ist wie die von Dad«,

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