Der Junge, der sich in Luft auflöste
versuchten alle uns keine Sorgen zu machen, aber niemandem gelang es.
Dann rief Mum Dad an und erzählte ihm, was passiert war. Er sagte, er sei ganz in der Nähe, bei der Kaserne, und für diesen Tag so gut wie fertig. Er würde nach Hause kommen und schauen, ob er irgendwie helfen könne. Mum legte auf und imselben Moment klingelte das Telefon. Tante Gloria stürzte sich auf den Hörer.
»Salim!«, rief sie.
Sie lauschte einige Sekunden und ihr Gesicht verwandelte sich in eine Minieiszeit. (Den Ausdruck hab ich selbst erfunden und ich hoffe, man kann sich denken, was er bedeuten soll.) Sie knallte den Hörer auf.
»Irgend so ein Mann, der Fenster für Gewächshäuser verkauft«, sagte sie. Es klang, als wäre der Verkauf von Fenstern für Gewächshäuser ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie blickte zur Uhr auf dem Kaminsims.
»Drei Stunden«, sagte sie. »Seit drei Stunden ist er nun fort. Das ist noch nie passiert.«
Sie begann im Zimmer auf und ab zu gehen, die eine Hand zur Faust geballt und in die andere gepresst. Es war sehr interessant, ihr dabei zuzusehen. Ich überlegte, mit welcher Wetterlage man sie vergleichen konnte, und entschied mich für ein Gewitter, auf sehr engem Raum, mit Zickzackblitzen.
»Salim«, sagte sie, als stünde er vor ihr, »ich zieh dir die Hammelbeine lang.«
Ich hatte das noch nie gehört und fragte mich, was Hammelbeine sind. Hammel wären Schafe, erklärte Kat mir später, aber Salim hatte ja keine Hammelbeine, sondern ganz normale, und die waren wirklich lang genug, fand ich.
Dann sagte Tante Gloria: »Ach, mein Junge, was haben sie mit dir gemacht?«
Ich fragte mich, wer »sie« wohl waren.
Dann: »Wehe, du bist bis Mittwoch nicht zurück, sonst verpassen wir unseren Flug nach New York.«
Dann: »Dieser bescheuerte Polizist. Was heiÃt hier keine Sorgen machen. Ich wette, er selbst hat keine Kinder.«
Dann: »Und wenn irgendeine schreckliche Bande ihn entführt hat. O nein, o Gott, nein!«
Dann merkte sie, dass ich sie ansah.
»Was glotzt du denn so?« Sie zeigte mit ihrem pinklackierten Fingernagel auf mich und zerstach damit die Luft. »Wenn du nicht vorgeschlagen hättest zum Riesenrad zu gehen, wäre das Ganze nicht passiert. Du mit deinem verdammten Fahrradrad im Himmel!« Sie plumpste aufs Sofa und stieà einen wimmernden Laut aus. »Oh, Ted, es tut mir leid! Ich habâs nicht so gemeint.«
»Glo!« Mum rannte zu ihr hin und setzte sich neben sie. »Beruhige dich doch, Schatz.« Dabei wedelte sie mit der Hand in meine Richtung, als würde sie eine lästige Fliege verscheuchen. Wahrscheinlich sollte es bedeuten, dass sie mich nicht in der Nähe haben wollte.
Ich ging zu Kat, die in der Küche am Tisch saÃ. Sie hatte ihr Kopfhörer auf und den Kopf auf die Arme gelegt, so dass sie mich weder sehen noch hören konnte.
Also ging ich nach oben in mein Zimmer.
9
Dodos, Schiffe und adelige Herren
Ich sprang auf mein Bett, dann auf den Boden, neben die Luftmatratze, auf der Salim die letzte Nacht geschlafen hatte, schlug mit der Faust gegen die Wand, sprang wieder aufs Bett und dann wieder runter, wieder ein Schlag gegen die Wand, machte »hmpf, hmpf«, wieder rauf aufs Bett, wieder runter auf den Boden ⦠Diese Angewohnheit hatte ich als Kleinkind schon gehabt, bevor meine Eltern mir das Trampolin kauften. Und als das Trampolin kam, sprang ich stattdessen darauf herum. Dann ging es kaputt, aber ich fing mit meiner alten Angewohnheit nicht wieder an, weil Mum meinte, davon würden die Wände und die Möbel kaputtgehen, jetzt wo ich schon gröÃer bin.
Also hatte ich es schon seit Ewigkeiten nicht mehr getan und wusste gar nicht mehr, wie gut es sich anfühlt.
Als ich von der Springerei müde geworden war, holte ich ein paar Bände meines Lexikons aus dem Regal, rollte mich mit dem Rücken zur Wand auf meinem Bett zusammen und schaute mir ein paar interessante Artikel an.
Es klopfte an der Tür. Kat kam rein.
»Ted«, sagte sie. Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. »Du hast deine Jacke ja noch an. Wieso vergisst du immer sie auszuziehen?«
Ich zuckte mit den Schultern und zog die Jacke enger um mich.
»Ted, ich brauche dich«, sagte Kat und tat etwas Merkwürdiges. Sie setzte sich nämlich neben mich auf mein Bett. »Du bist meine einzige
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