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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Kommissarin wedelte durch die Luft – was das bedeuten sollte, weiß ich nicht. Dann wandte sie sich wieder an Kat. »Ihr habt die Gondel mit den Augen verfolgt, sagst du?«
    Kat nickte.
    Â»Ihr habt eine halbe Stunde lang ununterbrochen nach oben gestarrt und dabei zugeguckt, wie das Riesenrad sich dreht?«
    Â»Na ja …« Kat dachte nach. »Wir sind ein Stück zurückgegangen, um besser sehen zu können. Wenn man zu nah dran ist, kann man den Gondeln bei ihrer Umdrehung nicht gut folgen, ohne sie durcheinanderzubringen. Und wir haben uns ein bisschen unterhalten.«
    Â»Ohne sie durcheinanderzubringen«, wiederholte Kommissarin Pearce. Sie verschränkte die Hände ineinander und stützte ihr Kinn darauf. »Wir haben uns ein bisschen unterhalten.«
    Â»Sie müssen uns ja nicht glauben …«
    Â»Das ist keine Frage von Glauben oder Nichtglauben.«
    Â»Aber wir haben sie wirklich mitverfolgt. Das haben wir. Da sind wir uns sicher, stimmt’s, Ted?«
    Â»Hmpf«, sagte ich. »Sicher … zu hundert Prozent, nein, Kat.« Kats Augen und ihr Mund zogen sich zusammen. »Sicher … zu achtundneunzig Prozent, ja.«
    Die Kommissarin blickte mich schweigend an. Ihre Mundwinkel zogen sich ein wenig in die Höhe, was bedeutete, dass sie leicht amüsiert war. Dann begann sie mit ihren verknoteten Fingern ihre Nase zu beklopfen. »Das heißt also«, sagte sie, »eine kleine Fehlerquote wäre drin?«
    Â»Nur eine kleine«, sagte ich. »Zwei Prozent.«
    Â»Zwei Prozent?«
    Â»Bei jeder menschlichen Wahrnehmung«, erklärte ich, »gibt es eine Fehlerquote. Was daran liegt, dass unsere Sinnesorgane sich auch täuschen lassen. Tatsächlich glauben manche Leute, dass eine Sicherheit von hundert Prozent unmöglich zu erreichen ist.« Ich hielt inne und legte den Kopf schief. »Als Mensch kann man sich nicht einmal sicher sein, dass die Sonne am nächsten Tag aufgeht. Unsere Annahme, dass sie es tun wird, kommt durch einen Vorgang der Induktion zustande. So nennt man einen Prozess, bei dem die Wahrscheinlichkeit es uns auf der Basis vorangegangener Beobachtungen ermöglicht, Dinge wie Wettermuster vorherzusagen …«
    Â»Es reicht mir jetzt«, unterbrach mich Tante Gloria. »Sonnenaufgang, Sonnenuntergang, Räder, die sich rauf- und runterdrehen, beobachtete Gondeln. Wir sind doch hier nicht auf dem Jahrmarkt. Hier geht es um meinen Sohn. Meinen einzigen Sohn. Er ist verschwunden. Was ich wissen möchte, ist, was in diesem Fall getan wird.«
    Â»Wir tun alles, was wir können«, antwortete Kommissarin Pearce. Sie entknotete ihre Finger und strich sich den Rock glatt. »Ich weiß, dass Sie sich Sorgen machen …«
    Â»Sorgen machen? So wie Sie es sagen, klingt es, als hätte ich meine Handtasche verloren.«
    Â»Wir stehen erst am Anfang. Er wird erst seit ein paar Stunden vermisst. In der großen Mehrzahl solcher Fälle tauchen verschwundene Jugendliche wie Salim innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden wieder auf.«
    Â»Achtundvierzig Stunden! Dann verpassen wir unseren Flug nach New York.«
    Â»Achtundvierzig Stunden, für gewöhnlich sogar früher. Aber wir nehmen das Verschwinden von Minderjährigen von Anfang an sehr ernst. Deswegen bin ich ja hier.«
    Â»Er ist nicht irgendein Minderjähriger. Er ist mein Sohn!«
    Mum legte ihren Arm um sie. »Glo …«, flüsterte sie.
    Â»Wir tun unser Möglichstes«, wiederholte Kommissarin Pearce.
    Â»Und das wäre?«, fragte Dad leise. Alle drehten sich nach ihm um.
    Die Kommissarin seufzte. »Wir haben begonnen, das Filmmaterial der Überwachungskameras auszuwerten. Keine Kamera kann alles oder jeden erfassen, aber für diesen Vormittag gibt es keinerlei Anzeichen für unheilvolle Ereignisse. Nur die üblichen Aufnahmen gewöhnlicher Touristen, die die Aussicht genießen. Wir haben auch die Aussagen von anderen Leuten aufgenommen, die zur selben Zeit mit dem Riesenrad fuhren. Unglücklicherweise beläuft sich ihre Zahl auf mehr als dreihundert. Und wir können nur diejenigen überprüfen, die mit ihrer Kreditkarte bezahlt haben. Bei den Barzahlern haben wir keine Chance. Aber wie gesagt: Bislang erinnert sich niemand an einen Jungen, auf den die Beschreibung Ihres Sohnes passt. Außerdem haben wir die Neuaufnahmen in den Krankenhäusern

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