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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Rettung. Mum spricht nicht mit mir. Tante Gloria hält mich für den Teufel im Engelsgewand. Dad ist gerade von der Arbeit nach Hause gekommen, aber er schüttelt jedes Mal den Kopf, wenn ich den Mund aufmache.«
    Ich hob den Kopf. »Der Dodo verschwand, Kat«, sagte ich.
    Â»Was?«
    Â»Der Dodo. Er ist ausgestorben und wurde damit zu einem Verlierer der Evolution.«
    Â»Aha. Der Dodo. Na und?«
    Â»Er verschwand. Darwin würde sagen, er war nicht anpassungsfähig genug, um zu überleben, also verschwand er.«
    Â»Ich glaube nicht, dass Salim ein Verlierer der Evolution geworden ist, Ted.«
    Â»Nein, das weiß ich. Aber ich habe über das Verschwinden nachgedacht«, sagte ich. »Und dazu ein bisschen in meinem Lexikon geblättert.«
    Â»Ah ja?«
    Â»Da gab es diesen Adeligen namens Lord Lucan. Manglaubt, dass er das Kindermädchen seiner Sprösslinge ermordete und sich dann vor lauter Reue von einer Klippe stürzte. Vielleicht stimmt es. Aber sein Körper wurde nie gefunden, Kat. Vielleicht wollte er nur so tun als ob und wanderte in Wirklichkeit verkleidet aus, unter einem anderen Namen. Eine Theorie besagt, dass er nach Indien ging, wo ein langhaariger Hippie aus ihm wurde.«
    Â»Ich verstehe nicht, was das mit …«
    Â»Oder möglicherweise wurde er selbst ermordet. Vielleicht liegt er bei irgendwem unter der Veranda.«
    Wir schwiegen eine ganze Weile. »Sehr hilfreich ist das nicht, Ted.«
    Â»Und dann gab es noch die Mary Celeste. Die Mary Celeste war eine dreißig Meter lange Brigg, ein Schiff aus New York. Sie wurde in der Bucht von Gibraltar gesichtet, ganz ohne Besatzung. Als wären alle, die sich an Bord befanden, von Aliens in den Weltraum gebeamt worden.«
    Â»Ted, ich glaube, das ist jetzt nicht der richtige Moment, um Witze zu reißen.«
    Ich schlug das Lexikon zu.
    Â»Okay«, sagte Kat. »Du hast keinen Witz gerissen, das müsste ich inzwischen eigentlich wissen. Du reißt nie Witze. Also: Worauf willst du hinaus?«
    Ich wusste es selber nicht so richtig. Der einzige Zusammenhang zwischen dem Dodo, Lord Lucan, der Besatzung der Mary Celeste und Salim war, dass sie allesamt verschwunden waren. Ich saß da und betrachtete Kats hochgezogene Schultern. Im Zimmer war es still, nur unser Atem war zu hören. Irgendwie, mit großer Anstrengung, schaffte ich es, meine Hand auszustrecken und sie auf Kats angespannte Schulter zu legen. Sie war knochig und weich.
    Â»Kat«, sagte ich. »Du und ich, wir stecken zusammen in dieser Geschichte. Menschen verschwinden. Und Dinge auch. Das Meiste davon taucht wieder auf.«
    Kat legte ihre Hand auf meine und ich sah, wie ihr ein paar Tränen über die Wangen rollten und herabfielen. Ihr Kopf kippte zur Seite – sie war es, die aussah, als wäre sie zu doof zum Scheißen – und ich spürte, wie eine Träne die Hand auf ihrer Schulter traf. Einen Moment lang wusste ich nicht, ob es ihre Hand war oder meine. Ich hasse es, Leute zu berühren. Die Nässe der Träne und das Durcheinander der Hände fühlten sich an, als wüssten wir beide nicht, wo Kat begann und ich aufhörte.
    Â»Ted«, sagte sie kopfschüttelnd. »Die Besatzung der Mary Celeste ist nie wiederaufgetaucht. Auch nicht der Dodo. Und auch nicht Lord Sowieso.« Sie schwieg und blinzelte die nächste Träne weg. »Dieser Polizist hatte Recht«, fuhr sie fort. »Menschen lösen sich nicht einfach so in Luft auf. Irgendwo muss Salim schließlich sein. Wenn es meine Schuld ist, dass er verschwunden ist, dann muss ich ihn eben wiederfinden. Aber ich brauche deine Hilfe, deinen Verstand, Ted. Niemand kann besser denken als du.«
    Es war das erste Mal, dass Kat mir ein Kompliment gemacht hatte. Ich drückte beide Hände in die Taschen meinerJacke, starrte auf meine Turnschuhe und sagte »hmpf«. Dann merkte ich, dass sich in einer der Taschen ein Gegenstand befand, der nicht dort hingehörte. Ich zog ihn heraus und starrte ihn an.
    Â»Salims Kamera!«, flüsterte Kat.

10
    Hassliebe
    Kat entriss mir die Kamera. »Als du dieses letzte Foto gemacht hast, während wir für die Karten anstanden … Da musst du sie, ohne nachzudenken, in deine Jacke gesteckt haben, Ted.«
    Ich streckte meine Hand nach der Kamera aus, aber Kat hielt sie von mir weg.
    Â»Was ging in dir vor, Salim«, flüsterte Kat, als befände er

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