Der Junge, der sich in Luft auflöste
Salim. Mum bat die Riesenrad-Mitarbeiter um Hilfe. Eine Frau vom Kundendienst kam, um sich mit uns zu unterhalten. Sie sagte, dass sie uns ja gerne helfen würde, es jedoch nicht könnte. Und dass in den Geschäftsbedingungen des Londoner Riesenrads stünde, dass Kinder nur in Begleitung von Erwachsenen fahren dürften.
Mums Augenbrauen stieÃen in der Mitte zusammen. »Kat«, sagte sie. »Ich habe dir vertraut. Du hättest diese Karte niemals annehmen dürfen. Und du hättest Salim nicht alleine fahren lassen dürfen.«
Dann passierte etwas Schreckliches. Kat brach in Tränen aus. Das hatte sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr getan. Die Knöchel ihrer Finger drückten sich an ihre Wangenknochen. »Alles ist immer nur mein Fehler. Und Teds Fehler nie. Immer kriege ich die Schuld. Und Ted macht niemals etwas falsch!«
»Du bist älter, Kat. Aber offensichtlich nicht viel klüger.«
Mum biss sich auf die Lippen und die beiden starrten sich gegenseitig an.
»Warum rufen wir ihn nicht auf seinem Handy an?«, schlug ich vor.
Mum runzelte die Stirn, als hätte ich irgendetwas Dummes gesagt. Dann hellte sich ihre Miene auf. (Das sagt man, wenn jemand gerade noch traurig ausgesehen hat und dann plötzlich wieder fröhlich wird, und ich mag diese Redensart, weil sie aus der Wetterkunde stammt, wie so viele. Eine Miene kann sich aufhellen wie der Himmel, wenn eine dunkle Cumulonimbuswolke vorübergezogen ist und die Sonne wieder hervorkommt.) »Natürlich, Ted!«, sagte sie und lächelte. »Du bist ein Genie. Daran hätten wir gleich als Erstes denken sollen.«
Wir eilten zurück zu dem Tisch, an dem Tante Gloria saà und wartete. Von Salim war nichts zu sehen. Als sie uns ohne ihn zurückkommen sah, stieà sie einen lauten Seufzer aus und sagte: »Wo ist dieser Junge bloà geblieben?«
Mum griff nach Tante Glorias Handtasche. »Ruf ihn an. Hol dein Handy raus und ruf ihn an.«
»Okay«, sagte Tante Gloria. »Wahrscheinlich ist er nur ein paar Meter von uns entfernt.«
Sie drückte einige Knöpfe und hob das Telefon lächelnd und mit einem Kopfnicken an ihr Ohr. Doch im nächsten Moment hellte ihre Miene sich nicht etwa auf, sondern ganz im Gegenteil: Sie verfinsterte sich.
»Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist zurzeit nicht verfügbar«, sprach Tante Gloria nach. »Bitte versuchen Sie es später wieder.«
Sie lieà das Handy auf den Tisch sinken. Ihre Lippen zitterten.
»Warum ist sein Telefon abgestellt?«, flüsterte sie. »Warum nur?«
Später berichtete Kat, dass wir die nächste Stunde damit verbrachten, wie kopflose Hühner durch den Stadtteil South Park zu rennen. Es ist eine verblüffende Tatsache, dass Hühner ein paar Sekunden, nachdem sie geköpft wurden, noch wie verrückt herumrennen können, aber ich glaube nicht, dass sie eine ganze Stunde durchhalten. Wir suchten überall, aber von Salim fehlte jede Spur. Wir gingen zu den Leuten vom Riesenrad zurück, die die Polizei riefen. Ein Wachtmeister notierte unsere Namen und Adressen. Er fragte, ob Salim wohl den Weg zurück zu unserem Haus finden würde. Wahrscheinlich schon, sagten wir. Dann riet er uns, drei Dinge zu tun:
a)Â Â weiter auf Salims Handy anzurufen;
b)Â Â nach Hause zu gehen und abzuwarten;
c)  sich möglichst keine Sorgen zu machen.
Er versprach, Salims Verschwinden seinen Kollegen vom Einsatzkommando, das gerade auf Streife war, zu melden. Wenn Salim innerhalb der nächsten Stunden nicht wiederauftauchen würde, käme ein Polizeibeamter bei uns vorbei. Kat versuchte ihm zu erklären, dass Salim irgendwann nach dem Einsteigen und vor dem Aussteigen verschwunden war. Der Wachtmeister blickte sie an, als hätte sie sich die Geschichte ausgedacht.
»Kinder lösen sich nicht einfach so in Luft auf«, sagte er. »Nach meiner Erfahrung jedenfalls nicht.«
Also entschlossen wir uns für b) und gingen nach Hause, um erst mal abzuwarten. Wir hofften, Salim im Vorgarten anzutreffen, aber dort war er nicht. Also tat Tante Gloria a), mit anderen Worten: Sie drückte immer und immer wieder auf die Wahlwiederholungstaste ihres Handys. Mum brachte sie ins Haus und machte Tee. Kat holte einen Porzellanteller und schmückte ihn mit ein paar Schokoladenstäbchen, was Mums und Kats Art war, es mit c) zu versuchen. Aber niemand aà davon. Wir
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