Der Junge, der sich in Luft auflöste
heiÃt, wenn man sich auf der nördlichen Halbkugel befindet. Auf der südlichen ist es genau umgekehrt. Genauso ist es mit dem Wasser, das in einem Abfluss verschwindet: auf der nördlichen Halbkugel verschwindet es entgegen dem Uhrzeigersinn, auf der südlichen mit dem Uhrzeigersinn.
Und mir wurde klar, dass es sich mit dem Londoner Riesenrad genauso verhält. Ich hatte es mir immer gegen den Uhrzeigersinn drehend vorgestellt. Was auch stimmt, wenn man es vom Südufer der Themse aus betrachtet. Aber (und zwar ein groÃes Aber!) wenn man vom Nordufer aus guckt, dreht es sich im Uhrzeigersinn.
Wirbelwinde und Riesenräder: im Uhrzeigersinn oder gegen den Uhrzeigersinn, je nachdem, wie man es betrachtet. Regenwürmer: männlich oder weiblich, je nachdem, wie man es betrachtet. Und dann Dads Lieblingsredewendung. Ein Glas: halbleer oder halbvoll, je nachdem, wie man es betrachtet.
Ich kratzte mich am Kopf. Je nachdem, wie man es betrachtet ⦠kann ein und dasselbe Ding das Gegenteil sein oder tun.Mir fiel ein Foto von einem Wasserfall ein, das Kat mir irgendwann einmal gezeigt hatte. Aber so wie es gemalt war, hatte man den Eindruck, dass das Wasser nach oben floss. Vielleicht war das ja der Schlüssel zu Salims Verschwinden. Vielleicht betrachteten Kat und ich die Dinge ja in die falsche oder aus der falschen Richtung.
Ich wurde ganz aufgeregt, denn Dinge anders zu betrachten, darin bin ich gut. Als ich klein war, habe ich ein Ei mal als drei Ringe gezeichnet: die Schale, das Eiweià und das Eigelb. Es sah aus wie der Planet Saturn, und die Lehrerin in der Schule meinte, es sei eine sehr ungewöhnliche Art, ein Ei zu zeichnen. Ich hätte es im Querschnitt gezeichnet, sagte sie, als ob ich Röntgenaugen hätte und durch das Ei hindurchsehen könnte. Ich versuchte mit Röntgenaugen zuzusehen, wie Salim in seiner Gondel fuhr, aber ich konnte nur Gestalten erkennen, dunkle Schatten, die sich umdrehten, um für das Erinnerungsfoto zu posieren.
Also nahm ich mir als Nächstes das Erinnerungsfoto vor. Nachdem Tante Gloria es zuvor auf den Boden geworfen hatte und die Polizei es nicht haben wollte, hatte ich es wieder in meinen Schreibtisch zurückgelegt. Ich musterte die Afrikanerinnen, den stämmigen weiÃhaarigen Mann, das dicke Ehepaar mit seinen Kindern, die japanischen Touristen. Von dem Mädchen in der rosaroten Jacke, das in unserer Nähe gestanden hatte, war nur der Arm zu erkennen, der über den Köpfen der anderen in die Kamera winkte. Ihren Freund konnte ich nicht sehen, auch nicht die lange Blonde mit dem grauhaarigenMann, der kleiner war als sie. Es war eine sehr voll besetzte Gondel gewesen. Nicht alle hatten auf das Bild gepasst. Salim hätte irgendwo im Hintergrund stehen können, hinter Schultern und dem Wirrwarr aus Körpern. Ich versuchte mit meinen Röntgenaugen zwischen den Leibern hindurchzuschauen. Aber da waren nur graue Stellen, dunkle Schatten, winzige Punkte, sonst nichts. Ich schob das Foto weg.
Ich stand auf und schlich mich hinunter in die Küche. Ich wusste, wo Mum die salzigen Essigchips aufbewahrte, und mir war danach. Ich nahm mir zwei Tüten und schlich in die Diele zurück. Blieb stehen. Die Tür zum Wohnzimmer war nur angelehnt und ich konnte Tante Glorias Stimme hören. Ich beschloss zu horchen und spitzte die Ohren, vielleicht ergab sich ja ein Hinweis. (Auch so ein Ausdruck, den ich seltsam finde. Wenn man die Ohren wirklich spitzen könnte, sähe man ja aus wie Mr Spock.) Möglicherweise wusste Tante Gloria etwas, ohne sich darüber im Klaren zu sein, und wenn ich es hörte, würde ich in der Lage sein, die Bedeutsamkeit der Information zu erkennen. Mum hat mir gesagt, dass es nicht richtig ist, andere zu belauschen. Kat lauscht ständig. Sie lauert in der Diele, wenn unsere Eltern über ernste Dinge wie zum Beispiel über Schulzeugnisse sprechen, und wenn ich ihr sage, dass man das nicht tun soll, faucht sie mich an, dass ich abhauen soll.
Aber an diesem Abend beschloss ich selbst zu lauschen.
»Ich hasse es zu warten«, sagte Tante Gloria gerade.
»Ich weiÃ.« Das war Rashids Stimme. »Du und Geduld, ihr passt einfach nicht zusammen.«
»Wir sollten die Presse einschalten, Rashid. Wie Kommissarin Pearce es vorgeschlagen hat.«
»Jetzt noch nicht, Gloria. Ich möchte nicht, dass unsere Privatangelegenheiten überall herumgetragen
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