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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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übrig war, schliefen wir. Als ich erwachte, frischte der Wind von Westen her auf. Leichter Regen trommelte gegen die Fensterscheibe. Die Luftmatratze auf dem Boden war leer. Ich malte mir aus, wo uns der Hinweis mit dem unbekannten Kartenmann wohl hinführen würde und ob es womöglich zu den verbliebenen Theorien auf der Liste passte. Je nachdem, wie man es betrachtet. Meine Gedanken vom Vorabend kamen mir wieder in den Sinn, darüber, dass Dinge sich gleichzeitig im und gegen den Uhrzeigersinn bewegen können. In meinem Kopf herrschte Chaos.
    Kat kam herein und fädelte sich im Gehen in ihre Pelzkragenjacke, die ihr zu eng war. Erst reckte sich der eine und dann der andere Arm in die Luft, während sie sich in die Jackenärmel hineinzwängte. »Ich geh dann los, Ted«, flüsterte sie. »Um die Fotos vergrößern zu lassen, ehe jemand etwas merkt. In einer Stunde bin ich zurück.«
    Sie legte einen Finger an die Lippen, griff nach dem Umschlag mit den Negativen und ging hinaus.
    Ich blickte auf meinem Schreibtisch herum. Die Fotos von der aufgehängten Wäsche lagen überall verstreut, und ich sah einen Wirrwarr von Bildern, Dads Schottenhemd, das an Schultern und Ärmelaufschlägen baumelte, Mums schwarzes langärmliges T-Shirt verkehrt herum, Kats Schulsweatshirt, Dads Boxershorts, drei von Mums BHs und meine Schlafanzüge. Ich legte die Bilder zu einem ordentlichen Stapel zusammen und ließ mich ins Kissen zurücksinken. Die kühle Luft einer Wetterfront über London strich mir über die Stirn und ich stellte mir das Satellitenfoto dazu vor: ein Durcheinander von Wolkenflecken, genau wie das Chaos in meinem Kopf.
    Das ist es, was ich brauche, dachte ich. Einen Blick aus der Vogelperspektive, wie von einem Satelliten. Ein geostationärer Satellit, 36000 Kilometer über der Erde, kann in Sekundenschnelle Bilder hinuntersenden. So ein Satellit misst die Temperatur der Wolken und wie warm die Meere an der Wasseroberfläche sind. Er verrät den Meteorologen, was alles passiert, und kann sie dabei unterstützen, die herannahenden Wettersysteme zu verstehen und Voraussagen zu treffen.
    Dann fiel mir wieder ein: Sogar ein geostationärer Satellit kann zwei Dinge zugleich, nämlich verharren und sich bewegen. Im Verhältnis zur Erdoberfläche bleibt er reglos, aber nur deswegen, weil er die Erde genauso schnell umkreist, wie sie sich dreht. Im Uhrzeigersinn oder gegen den Uhrzeigersinn, männlich oder weiblich, halbleer oder halbvoll, je nachdem, wie man es betrachtet.
    Ich stöhnte und vergrub meinen Kopf mit den tanzenden Gehirnwellen unterm Kopfkissen. Mums und Tante Glorias Stimmen hallten die Treppen rauf und runter. Von Dad war nichts zu hören. Mein Wecker zeigte 9.02 Uhr an, was bedeutete, dass er zur Arbeit gegangen war. Im nächsten Moment tönte Rashids Stimme von unten aus der Küche. Ich nahm den Geruch von Toast wahr.
    Es verging eine Stunde. Ich zog mich an, schlüpfte in das Hemd, das ich am Tag zuvor und zwei Tage davor schon angehabt hatte, aber Mum würde es bestimmt nicht merken. Um fünf nach zehn schlich ich mich bis zum Treppenabsatz, genau als Kats Umrisse hinter der Milchglasscheibe der Haustür erschienen. Sie öffnete sich langsam und Kat schlüpfte herein, ihren Schlüssel in der Hand. Als sie mich oben an der Treppe stehen sah, legte sie wieder den Finger an die Lippen. Aber Mum hatte sie offenbar gehört und kam aus der Küche, ehe Kat auf der Treppe war.
    Â»Wo bist du gewesen, Kat? Ich hatte nicht erlaubt, dass du rausdarfst, wie es dir gerade so passt.«
    Â»Hallo, Kat«, sagte ich. »Hast du ihn?«
    Kat starrte Mum an und dann mich.
    Â»Meinen Kompass«, sagte ich. Ich lief die Treppe hinunter und tätschelte Mums Ellbogen. »Ich meine, dass er mir gestern aus der Hosentasche gefallen ist. Kat wollte mal für mich im Vorgarten nachsehen.«
    Â»Oh«, sagte Mum und wuschelte mir über den Kopf. »Ich wusste nicht, dass du ihn verloren hast. Entschuldige, Kat. Ichdachte, du wärst irgendwo hingegangen. Hast du ihn denn gefunden?«
    Â»Nein«, antwortete Kat. »Ich hab alle Büsche abgesucht. Nichts.«
    Â»War nur ein billiger«, sagte ich. »Aber man konnte gut damit die Windrichtung bestimmen.«
    Â»Wenn das hier alles vorbei ist«, sagte Mum – sie hielt inne und schüttelte den Kopf –, »falls es jemals vorbei

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