Der Junge, der sich in Luft auflöste
werden.«
»Jetzt fängst du schon wieder an! Denkst immer nur daran, was andere Leute denken. Was spielt das denn für eine Rolle? Das Einzige, was zählt, ist Salim.«
»Okay, Gloria. Morgen wenden wir uns an die Presse. Wenn Salim bis dahin nicht gefunden wird.«
Es folgte eine Pause. Ich hörte ein Seufzen und das Knarren des Sofas.
»Ich gäbe alles dafür zu wissen, dass Salim lebt, irgendwo, egal wo, unverletzt«, sagte Tante Gloria.
»Er lebt, glaub mir. Das fühl ich einfach.«
»Ich hoffe, dein Gefühl hat Recht«, sagte Tante Gloria. »Oh, Rashid. Wenn er gesund zurückkommt, dann lass uns öfter voneinander hören. Das war nicht gut für ihn, unser Schweigen.«
»Warum schleppst du ihn dann nach New York? Ich hätte dir beinahe eine einstweilige Verfügung auf den Hals gehetzt.«
»Das ist doch nicht wahr!«
»Doch. Du hast mich über deine Pläne ja nicht informiert. Ich habe nur durch Salim davon erfahren.«
»Aber ich brauche das Geld, Rashid.«
»Ich zahl euch doch jeden Monat was, oder etwa nicht? So wie wirâs ausgemacht haben.«
»Das reicht aber nicht. Ich brauche auch ein gutes Gehalt.«
»Wozu? Um deine ganzen Kleider zu bezahlen?«
Die Stimmen wurden wieder lauter. Ich wich zurück, Richtung Treppe.
»Du kannst in deinem Beruf so viel Karriere machen, wie du willst«, sagte Tante Gloria. »Warum kann ich das nicht auch?«
»Du bist unmöglich, Gloria. Du denkst immer nur an dich.«
»Das ist eine Lüge. Ich bin doch diejenige, die sich um Salim kümmert, tagein, tagaus. Er ist sein ganzes Leben lang bei mir gewesen. Er gehört mir. Wo ich hingehe, geht er auch hin.«
»Salim ist Salim«, sagte Rashid. »Er gehört keinem von uns.«
Noch eine Pause. Ich rührte mich nicht. Wieder knarrte das Sofa.
»Du hast Recht«, sagte Tante Gloria. »Wenn ihm irgendetwas zustoÃen würde, sagst du ja, dass du es mir nie verzeihen würdest. Aber ich würde es mir selber nie verzeihen.« Ihre Stimme zitterte, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Ich stieg die erste Stufe hinauf.
»Mach dir keine Vorwürfe, Gloria«, sagte Rashid. Ich hörte ihn seufzen. »Salim hat mich bei seinem letzten Besuch etwas gefragt.«
»Was denn?«
»Er hat gefragt, ob er nicht bei mir einziehen könnte.«
»Das glaub ich nicht!«
»Hat er aber.«
»Niemals. Unmöglich.«
»Ich weià nicht, ob er es ernst meinte. Aber er hat wirklich gefragt.«
»Was hast du gesagt?«
»Ich sagte ⦠dass ich tagtäglich in der Praxis viel zu viel zu tun hätte. Dass er es bei seiner Mutter besser hätte. Und dass er nach New York gehen solle, es wäre eine tolle Stadt. Ich habe nein gesagt. Ich hab mich nicht mal mit ihm hingesetzt, um darüber zu reden. Er hat gefragt, als ich es gerade eilig hatte, weil ich zu einem Patienten musste. Ich hab mich taub gestellt, Gloria.«
»Oh, Rashid! Fang bloà nicht an. Ich haltâs nicht aus, erwachsene Männer weinen zu sehen.«
Geraschel, unterdrücktes Schluchzen, Seufzer. Ich wusste schon, was als Nächstes kommen würde. Mir sträubten sich die Haare. Sie küssten sich. Den Geräuschen nach zu urteilen, waren es diese Küsse mit den aallangen Zungen, von denen mir Kat vor ein paar Jahren erzählt hatte. Sie meinte, dass sie das in den Kinofilmen immer tun, wenn die Wangen sich so bewegen. Und dass die Schüler es in den Fluren der Schule tun, wenn die Lehrer gerade nicht hinsehen. Und Mum und Dad, wenn wir gerade nicht hinsehen.
Manchmal droht Mum uns mit merkwürdigen Strafen. Wenn ich drei Tage lang vergesse, mein Schulhemd zu wechseln, reiÃt sie es mir vom Leib, bricht bei der Inspektion des Kragens in Geschrei aus und droht, mich mit den Zehennägeln an der Wäscheleine aufzuhängen, wenn ich es das nächste Mal vergesse. Das ist natürlich ein Witz. Aber wenn man mich vordie Wahl stellen würde â mit den Zehennägeln an einer Wäscheleine zu baumeln oder von jemandem wie Tante Gloria geküsst zu werden â, dann weià ich, was ich wählen würde. Auf jeden Fall die Wäscheleine.
Ich flüchtete nach oben, so schnell ich konnte. Für einen Abend hatte ich genug gehört.
21
Puzzleteile
Ich stieg vorsichtig zurück ins Bett, um Kat nicht zu wecken, und mampfte
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