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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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Wenn Sie Salim festhalten, wenn Sie wissen, wo mein Junge ist, oder wenn Sie glauben ihn vielleicht gesehen zu haben … bitte, bitte melden Sie sich. Wir sind bereit alles zu tun, um ihn zurückzubekommen. Er ist unser Junge. Nur ein Anruf, damit wir wissen, dass es ihm gutgeht. Damit wir wissen, dass er … lebt.« Ihr Gesicht verzog sich. »Die Angst lähmt uns. Bitte. Verständigen Sie die Polizei. Danke.«
    Â»Schnitt«, sagte der Schmalgesichtige zum Kameramann. »Das war großartig«, sagte er zu Tante Gloria.
    Â»Soll ich es noch mal machen?«, fragte sie. »Wollen Sie noch einen Take?«
    Â»Nicht nötig, Schätzchen.«
    Â»Sicher?«
    Â»Es war auf Anhieb gut. Sie sind ein Naturtalent.«
    Und innerhalb von fünf Minuten hatte das Kamerateam alles zusammengepackt und war wieder verschwunden. Mum und Rashid brachten sie hinaus zu ihrem Transporter und auch die Polizei brach auf. Also war ich mit Tante Gloria allein im Zimmer. Sie saß auf dem Sofa und starrte vor sich hin.
    Â»Ach, Ted«, sagte sie nach einem Moment des Schweigens. Sie sah mich direkt an und ich begriff nicht, was ihr Gesichtsausdruck bedeutete. Ich rechnete mit irgendeiner wütenden Äußerung. Doch stattdessen schüttelte sie den Kopf und ihre Augen wurden feucht. »War ich gut?«, flüsterte sie.
    Â»Ja, Tante Gloria«, sagte ich.
    Â»Meinst du, dass irgendwer es vielleicht gehört hat und vielleicht helfen wird?«
    Â»Die Möglichkeit besteht«, antwortete ich.
    Â»Was denkst du, Ted? Glaubst du, dass es Salim gutgeht?«  
    Â»Hmpf«, sagte ich.
    Â»Was soll das denn bedeuten?«, sagte Tante Gloria. Ihr Gesicht nahm wieder den Minieiszeit-Ausdruck an.
    Â»Ich hab bloß nachgedacht, Tante Gloria.«
    Die Minieiszeit taute auf. Tante Gloria seufzte. Ihre Hand kam auf mich zu und landete auf meinem Kopf. Sie wuschelte mir durchs Haar, wie Mum es immer tut. Ich wand mich, aber sie merkte es nicht.
    Â»Weißt du, Ted, mir ist hundeelend.«
    Ich fragte mich, woher Tante Gloria wohl wusste, wie Hunde sich fühlen, wenn ihnen schlecht wird.
    Â»Immerhin bist du ehrlich«, sagte sie. »Alle sagen mir dauernd, dass es ihm gutgeht, dass alles wieder gut wird und er jede Sekunde zur Tür reinkommen wird. Aber die Sekunden vergehen und er kommt nicht zurück. Sie sagen nicht das, was sie denken. Die Wahrheit ist, dass wir es einfach nicht wissen.«
    Â»Tante Gloria«, sagte ich. »Salim muss irgendwo sein. Es ist ein Rätsel. Aber ich arbeite daran. In meinem Gehirn.«
    Â»Deinem Gehirn«, wiederholte Tante Gloria. Sie lächelte mich an, aber das Lächeln erinnerte mich daran, wie Mum mich damals angelächelt hatte, als ich sie fragte, ob es Wundermittel gäbe und ich eins für mein Syndrom bekommen würde, wenn ich nur doll genug betete. Tante Glorias Mundwinkel gingen nach oben und gleichzeitig rollte ihr eine Träne die Wange hinunter, genau wie bei Mum damals. Sie nahm meine Hand und rieb meine Knöchel, was sehr seltsam war und wovon meine andere Hand zu schlackern begann. »Manchmal denke ich, in deinem Gehirn steckt mehr, Ted, als bei uns anderen zusammen. Wenn allein der reine Verstand Salim zurückbringen könnte, dann wär es deiner.«
    Tante Gloria erhob sich vom Sofa und ging nach oben in Kats Zimmer, das zurzeit ja ihr Zimmer war.
    Ich wollte Mum nicht über den Weg laufen, damit sie mich nicht noch mal nach Kat fragte und mir erspart blieb, die Lüge mit Tiffany erzählen zu müssen. Also ging ich dorthin, wo ich für meine beiden Lieblingsbeschäftigungen – nämlich Nachdenken und Wetterbeobachtung – immer hingehe: in den Garten.
    Die Hemden flatterten immer noch an der Leine. Sie hingen nun schon seit drei Tagen dort. Mum hatte sie völlig vergessen. Ich befühlte sie. Sie waren vom Nieselregen an diesem Morgen ganz feucht geworden. Ich schritt den Rasen ab, um zu überprüfen, ob er mehr oder weniger geworden war. Zwölfeinhalb Schritte lang und sieben Schritte breit, genau wie letzte Woche.Dann wurde mir klar, dass meine Beine vom Wachsen länger werden würden, wodurch die Anzahl der Schritte mit der Zeit abnehmen musste. Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Dinge sich, je nachdem, wie man sie betrachtet, verändern können. Ich dachte wieder an das Wasser, das im Abfluss verschwindet und sich dabei in verschiedene Richtungen

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