Der Junge, der sich in Luft auflöste
waren wieder unten in der Küche. Sie unterhielten sich leise. Im Haus war alles ruhig.
Ich schlich die Stufen hinunter und steuerte auf die Haustür zu. Ich öffnete sie, trat ins Sonnenlicht hinaus und hielt inne. War es richtig, was ich da tat? Was, wenn Mum den Zettel fand und mir nicht glaubte? Was, wenn ich Kat in der Ausstellungshalle gar nicht finden würde? Was, wenn ich gar nicht erst die Halle fand? Was, wenn ich es nicht mal bis zur nächsten U-Bahn-Station schaffte?
Aber Kat-astrophe, Kat-aklysmus, Kat-alog der Schreckensmeldungen â meine fiese, bekloppte Schwester â würde mich nicht einfach so abhängen, nicht wenn es so wichtig war. Ganz langsam zog ich die Haustür zu und durchquerte unseren briefmarkengroÃen Vorgarten. Dann schloss ich hinter mir die Pforte, trat auf den Bürgersteig hinaus und lief die StraÃe hinunter.
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Der Coriolis-Effekt
Unterwegs dachte ich darüber nach, wie schwierig es ist, irgendwelche Dinge zu ergründen. Das Wetter zu verstehen, gehört zu den schwierigsten Dingen überhaupt. Man kann einen Hurrikan dabei beobachten, wie er sich über dem Meer fortbewegt, aber welchen Weg er genau nehmen wird und wo er auf die Küste trifft, das weià man nicht. Es gibt zu viele Variablen, die seinen Kurs ändern können. Beispielsweise den Coriolis-Effekt.
Der Coriolis-Effekt ist sehr interessant. Man kann ihn weder sehen noch berühren, und trotzdem existiert er. Er kann Dinge umlenken. Der Coriolis-Effekt ist eine Kraft, die weltweit eine Menge bewirkt, und er funktioniert wie folgt:
Die Erde dreht sich, wie man weiÃ. Wenn man auf dem Ãquator steht, dreht man sich mit ihr, 40000 Kilometer innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Man bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von 1670 Kilometern pro Stunde, obwohl es einem dabei so vorkommt, als ob man still stünde. Diese Geschwindigkeit, von der man gar nichts merkt, ist die tangentiale Geschwindigkeit. Aber wenn man am Nordpol steht, legt man überhaupt keine Entfernung zurück. Man dreht sich die ganze Zeit nur auf demselben Punkt. Dort ist die tangentiale Geschwindigkeit gleich null.
Der Coriolis-Effekt kommt durch den Unterschied dieser beiden tangentialen Geschwindigkeiten zustande. Wenn man vom Ãquator etwas Richtung Nordpol wirft, fliegt es nicht gerade, sondern schief. Die Differenz der tangentialen Geschwindigkeiten sorgt dafür, dass es von seiner Flugbahn abweicht oder abgelenkt wird. Das Wurfgeschoss landet ein bisschen weiter rechts. Wenn man aber am Ãquator stünde und etwas Richtung Süden schieÃen würde, würde es statt rechts etwas weiter links landen. Rechts auf der Nordhalbkugel, links auf der Südhalbkugel. Es ist dasselbe wie mit den beiden unterschiedlichen Rotationsrichtungen des abflieÃenden Wassers.
Während ich mich von unserem Haus entfernte, dachte ich über den Coriolis-Effekt nach. Ich grübelte über Salims Verschwinden. Salim zu finden war vielleicht so ähnlich, wie dem Wetter auf die Schliche kommen zu wollen, ohne etwas über den Coriolis-Effekt zu wissen. Wir wussten nicht, was ihn von seiner Bahn hatte abweichen lassen. Aber irgendetwas musste es gewesen sein.
Ich dachte über Abweichungen, Umlenkungen, Wirbelstürme und das Wetter nach. Ãber Norden, Süden, männlich, weiblich, voll, leer, Gegenuhrzeigersinn und Uhrzeigersinn. An einer Ecke blieb ich stehen und merkte, dass ich in die falsche Richtung gegangen war und nicht mehr genau wusste, wo ich war.
Ich habe eine Orientierungsschwäche. Ich verwechsele links und rechts. Meine Hand schlackerte, bis ich nach oben guckte und die Haufenwolke sah, die mir zuvor schon aufgefallen war. Sie hatte sich zu einer Cumulonimbuswolke aufgetürmt, die von einem finsteren Himmel im Hintergrund von Londons Hochhäusern herabhing. Regen oder Hagel, vielleicht auch ein Gewitter, näherten sich. Ich lief zurück in die Richtung, aus der ich gekommen war. Wieder an unserem Haus vorbei und auf die Wolke zu. Irgendein Gefühl sagte mir, dass es so stimmte, und tatsächlich erreichte ich nach kurzer Zeit die HauptstraÃe und konnte von dort aus die U-Bahn-Station sehen.
Aufgrund meiner Orientierungsschwäche kann ich keine Karten lesen. Ich weià nie, ob ich sie richtig rum oder verkehrt herum halten soll. Aber eine Karte gibt es, die ich lesen kann, nämlich die des Londoner U-Bahn-Netzes. Weil es sich um eine
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