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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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dreht, je nachdem, auf welcher Halbkugel der Erde man sich befindet. An das Londoner Riesenrad, das sich in verschiedene Richtungen dreht, je nachdem, auf welchem Flussufer man sich befindet. An Würmer, die männlich und weiblich zugleich sind, an Satelliten, die sich bewegen und gleichzeitig stillstehen. Etwas durchzuckte mein Gehirn. Ein Muster, zwei Dinge, die gleich aussahen. Etwas, das wie irgendetwas Bestimmtes aussah, in Wirklichkeit aber etwas anderes war. Ich kniff mich in den rechten Unterarm, damit das Muster hängenblieb, aber das tat es nicht. Es verschwand, ehe ich es zu fassen bekam, ehe ich herausfinden konnte, worin es bestand.
    Ich blickte zum Himmel hinauf. Dünne Stratuswolken, weiß und harmlos, zogen im Südosten dahin. Nordöstlich jedoch, im Stadtzentrum, bildete sich eine Haufenwolke. Ich starrte hinüber, während der Dunst sich sammelte, stellte mir vor, wie die Wasserpartikel um einen Trichter in der Mitte herumwirbelten, wodurch er zu einem bedrohlichen Schacht wurde. Vielleicht würde die Wolke Regen bringen, vielleicht auch nicht. Sie bewegte sich über den Himmel auf uns zu. Die aufsteigenden Luftströme blähten ihre schwere, knollenförmige Form weiter auf und ließen sie dadurch noch massiger erscheinen.
    Ich dachte an Kat, die dort irgendwo in der Stadt war, unterhalb der sich auftürmenden Haufenwolke, auf der Jagd nach dem Mann, der uns die Karte gegeben hatte. Und da wusste ich, was ich zu tun hatte.
    Ich ging an das Telefon im Elternschlafzimmer, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Und ich wählte die Nummer des Sicherheitsdienstes zum zweiten Mal.
    Â»Security-Kommando?« Dieselbe weibliche Stimme ertönte nach der Musik und der Ansage vom Band.
    Â»Hallo«, sagte ich.
    Â»Hallo«, sagte sie. »Womit kann ich dienen?«
    Â»Hmpf.«
    Â»Entschuldigung«, sagte sie. »Ich hab’s nicht richtig verstanden.«
    Â»Ã„hm«, sagte ich.
    Â»Du bist noch ein Kind, oder?«
    Â»Ich bin zwölf Jahre alt«, sagte ich.
    Â»Na ja«, antwortete sie. »Ich bin nur eine Aushilfe.«
    Eine Pause. Ich dachte intensiv nach.
    Â»Hast du dich verwählt?«
    Â»Nein.«
    Â»Wen suchst du denn?«
    Â»Einen Mann«, sagte ich.
    Â»Einen Mann?«
    Â»Einen Mann mit Bartstoppeln am Kinn.«
    Sie lachte laut auf. »Das klingt nach Christy. Der ist hier der Einzige, der sich nie anständig rasiert. Du bist heute schon diezweite Person, die nach ihm fragt. Ich kann dir nur sagen, was ich ihr gesagt habe: Er ist nicht da.«
    Â»Nicht da.«
    Â»Ich bin die Einzige, die heute hier ist.«
    Â»Oh.«
    Â»Der letzte Mann an Bord, sozusagen.« Noch mehr Lachen tönte durch die Leitung. Ich verstand den Witz nicht so richtig, aber ich tat das, was Mr Shepherd mir geraten hatte, und lachte mit.
    Â»Erst dieses Mädchen, das den Freund ihres älteren Bruders sucht … Sie hatte ein Foto von ihm dabei, aber sie wusste nicht, wie er heißt, und war ganz verzweifelt, weil er Asthma hat und seinen Inhalator bei ihr zu Hause vergessen hat. Und nun ein Junge, der einen Mann mit Stoppelkinn sucht. Also, Kleiner, ich sag dir einfach, was ich dem Mädchen gesagt hab. Bin ja umgänglich. Brauchst nicht zu denken, ich hätte Haare auf den Zähnen.«
    Ich stellte mir vor, wie bartstoppelige Zähne aussahen.
    Â»Christy ist mit den anderen Typen und Mädchen unterwegs. Sie machen diese Woche alle denselben Job. Unten in Earl’s Court bei der Motorrad- und Motorroller-Show.«
    Â»Earl’s Court?«
    Â»Die große Ausstellungshalle. Wenn du Christy dort findest, dann sag ihm aber nicht, dass du’s von mir weißt, okay?«
    Â»Okay«, sagte ich, aber sie hatte bereits aufgelegt.
    Man kann ein ganzes Leben leben, zwölf Jahre und 188 Tage (oder sogar 4571 Tage, um die drei Zusatztage der Schaltjahre nicht zu vergessen), ohne ein einziges Mal zu lügen. Und dannlügt man am Tag Nummer 4572 gleich zweimal. Die erste Lüge war die von dem verlorenen Kompass gewesen, den ich gar nicht verloren hatte. Und die zweite Lüge war der Zettel, den ich nun schrieb und neben das Telefon legte. Darauf stand:
    Liebe Mum,
    wir sind schwimmen gegangen, um uns ein bisschen zu bewegen. Ted.
    Als Nächstes entnahm ich der Schatzkiste, die ich habe, seit ich fünf bin, fünfzehn Einpfundstücke. Ich stellte mich oben auf den Treppenabsatz und horchte. Mum und Rashid

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