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Der Junge, der sich in Luft auflöste

Der Junge, der sich in Luft auflöste

Titel: Der Junge, der sich in Luft auflöste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siobhan Dowd
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topologische Karte handelt, bewegt man sich in einem System, wo die Zwischenräume einzelner Punkte keine Rolle spielen – worauf es ankommt, ist einzig und allein die Abfolge der Haltestellen und die Punkte, an denen die Linien sich kreuzen. Den Übersichtsplan des U-Bahn-Netzes könnte man auf alle möglichen Arten falten und verdrehen, es bliebe dennoch dieselbe Karte, solange die Kreuzungspunkte dieselben bleiben.
    Ich blieb ganz lange vor der Karte stehen.
    Dann entdeckte ich Earl’s Court. Die Haltestelle lag auf der grünen und auf der blauen Linie.
    Ich musste also erst die schwarze Linie bis Embankment nehmen und dort in die grüne umsteigen oder mit der schwarzen bis Leicester Square weiterfahren und von dort die blaue nehmen. Die Embankment-Strecke kam mir kürzer vor.
    Ich kaufte eine Fahrkarte und ging hinunter auf den Bahnsteig.
    Meine Hand steckte ich in die Jackentasche, damit sie nicht schlackern konnte.
    Das Schild zeigte an, dass ein Zug nach High Barnet kommen würde, der über Charing Cross fuhr. Ich hörte ein Rumpeln im Tunnel und dann fuhr der Zug in den Bahnhof ein wie ein silberfarbener Lavastrom, der sich aus einem Vulkan ergoss. Die Türen öffneten sich. Ich stieg ein und setzte mich auf einen Platz.
    Der Wagon war halbvoll – oder halbleer, je nachdem, wie man es betrachtete.
    Auf dem Fenster gegenüber war eine Inschrift eingeritzt: NIEMALS! Mit einer scharfen Klinge hineingekratzte Buchstaben aus weißen, parallel verlaufenden Strichen. Das war eine schlimme Sache, die jemand einfach nur so aus Spaß gemacht hatte, so wie Doktor Tod, der seine Patienten ermordete.
    Ein unangenehmes Gefühl kroch mir die Speiseröhre rauf.
    Normalerweise fahre ich immer zusammen mit Kat oder Mum U-Bahn, manchmal auch mit Dad. Es macht mir Spaß, ihnen anzukündigen, wie die nächste Station heißt, woran man sieht, wie gut ich die Karte lesen kann, und außerdem sage ich dann, wie viele Stationen wir noch fahren müssen. Aber nun war ich ganz allein. Also zählte ich die Stationen und sagte dieNamen in Gedanken auf. Dadurch würde ich nicht vergessen, an der richtigen Haltestelle auszusteigen.
    Zwischen Waterloo und Embankment fahren die Züge unter der Themse durch. Eine lange Pause ohne Halt. Ich sah einen Mann, der ein Werbeschild für eine Autoversicherung anstarrte. Er saß unter der eingeritzten Inschrift und seine Augenbrauen standen dicht beieinander. Auf seiner Stirn waren Furchen und er hatte die Lippen zusammengepresst, was bedeutete, dass er wütend war. Außerdem klebte ein Pflaster auf seiner Wange.
    Mir fiel wieder ein, wie Sherlock Holmes seinen Assistenten Watson einmal verblüfft hatte, indem er dessen Gedankenkette nachvollzog. (Das Wort »Gedankenkette« ist eine gute Art zu beschreiben, wie bei jemandem ein Gedanke auf den anderen folgt, so dass sie alle aneinanderhängen wie die einzelnen Glieder einer Kette.) Holmes schaffte es einfach nur durch Beobachtung von Watsons Gesicht und der Dinge, die Watson anstarrte, und daraus zog er dann seine Schlussfolgerungen.
    Also schlussfolgerte ich, dass der Mann, der mir gegenübersaß, eine Gedankenkette hatte, bei der es um einen Autounfall ging, der ihm passiert war, daher seine Verletzung, und dass die Werbung der Autoversicherung ihn wütend machte, weil er nicht versichert gewesen war.
    Diese kleine Übung in schlussfolgerndem Denken gefiel mir so gut, dass ich fast vergessen hätte auszusteigen, als der Zug hielt.
    Eine Frauenstimme sagte an: »Embankment. Vorsicht bittebeim Aussteigen, beachten Sie die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante.« Ich sprang mit schlackernder Hand auf und schaffte es gerade noch im letzten Moment durch die Türen, bevor sie sich schlossen. Dann wäre ich fast in die Lücke gefallen, aber nur fast.
    Ich folgte den Schildern zur grünen Linie, die Richtung Westen fuhr, und stieg in einen Zug, auf dem EALING BROADWAY vorne draufstand. Ich musste sieben Stationen fahren. Es war eine hellere Fahrt, näher an der Erdoberfläche. Tageslicht blitzte auf. Ich roch Feuchtigkeit. Ich versuchte nicht herauszufinden, was irgendeiner der anderen Fahrgäste wohl dachte, sondern konzentrierte mich auf die Abfolge der Haltestellen, und am Earl’s Court stieg ich aus.
    Das Wetter war umgeschlagen. Hagelkörner sprangen von der Wellblechüberdachung des Bahnsteigs. Hagel ist ein Regen aus

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