Der Junge, der sich in Luft auflöste
Stille. Wieder das Ticken der Uhr. Das Pochen des Blutes in meinen Ohren, wie Zugräder, die sich in meinem Kopf drehten. Züge wie Gedankenketten, die auÃer Kontrolle gerieten und bei denen die Verbindungen zwischen den einzelnen Wagons sich lösten. Der Junge auf dem Metalltisch, der Junge im Zug. Mum machte eine Kanne Tee. Ich hörte, wie ein Löffel gegen Porzellan schlug, als Dad seinen Zucker in den Tee rührte. Salim oder nicht Salim.
»Ich halte das nicht länger aus«, sagte Gloria und sprang auf. »Dieses Warten. Ich haltâs nicht aus.«
Mum streckte einen Arm aus und legte ihre Hand auf Tante Glorias Handgelenk. »Ich weiÃ, Glo. Setz dich wieder.«
»Ihr habt doch keine Ahnung. Könnt ihr doch gar nicht haben. Kat und Ted sind nie verschwunden. Jedenfalls nicht so. Länger als zwei Tage. Und dann nichts. Keine Nachricht. Nichts.«
»Beruhige dich, Gloria«, sagte Rashid.
»Wie denn? Ihr sitzt alle hier. Ihr schaut mich alle an. Ich weià doch genau, was ihr denkt!«
»Glo â¦Â«, sagte Mum.
»Hör bloà auf ⦠Ich habe gehört, wie du heute mit Ben telefoniert hast. Du denkst doch, dass Salim weggelaufen ist, oder?Dass er sich irgendwo versteckt ⦠vor mir, oder? Sagâs doch einfach!«
»Glo â¦Â«
»Na los ⦠Sag es.«
»Vielleicht ⦠Wenn man die Wahl hat, sich vorzustellen, dass Salim von irgendeinem fiesen Kerl entführt worden ist ⦠oder dass er sich irgendwo versteckt, mal ganz abgesehen davon, was er dir damit antut ⦠dann, ja, denke ich schon ⦠na ja, ich â¦Â«
»Du sagst also, es ist meine Schuld! Dass ich mir die Sache selber eingebrockt habe.«
»Nein, Glo, das nicht, aber vielleicht war der Umzug nach New York für Salim ein Schritt, der zu â¦Â«
»Stimmt nicht, stimmt nicht!«, schrie Tante Gloria. »Ich kenne doch meinen Jungen. Er würde mir das niemals antun, das weià ich â¦Â«
Sie drehte sich vom Tisch weg, der Ãrmel ihres Morgenmantels blieb an ihrem Teller hängen und eine frittierte Zwiebel segelte durch die Luft. Ihre Schultern bebten. »Ich werde rausgehen und ihn finden. Das mach ich. Ist mir egal, ob ich ganz London abrennen muss.« Sie taumelte durch die Tür hinaus in die Diele.
Mum sprang auf. »Glo! Bleib hier! Ich habâs nicht so gemeint â¦Â«
Von meinem Platz aus konnte ich sehen, wie Tante Gloria an der Klinke zerrte, um die Haustür zu öffnen. »Lass mich, Fai«, brüllte sie.
»Halt sie auf, Ben«, sagte Mum. »Sie dreht durch.«
Dad, der ganz benommen wirkte, stand auf. Kat ebenfalls. Rashid saà reglos da. Sein Mund stand sperrangelweit offen.
Genau in dem Moment, als Tante Gloria die Tür aufmachte, heulte direkt vor unserem Haus eine Sirene auf. Lichter blitzten. Aus dem Vorgarten drangen Stimmen, Gestalten bewegten sich, ein Durcheinander. Ein Stuhl fiel um und Rashid schaukelte auf seinem Stuhl hin und her und begann zu stöhnen: »Bitte nicht, lieber Gott, bitte nicht.«
Ein unangenehmes Gefühl kroch mir die Speiseröhre rauf.
Die Polizei war gekommen, genau zu dem Zeitpunkt, den Kriminalkommissarin Pearce mir angekündigt hatte.
Aber mit der Sirene hatte ich nicht gerechnet.
Und sie klang nicht so wie die Sirene, als ich mit Kat Krankenwagen gespielt hatte.
Sie klang echt und nah und laut und schlimm.
Der Junge im Zug. Der Junge auf dem Metalltisch. Salim oder nicht Salim. Ich presste die Hände auf die Ohren. Hier die allgemeinen Aussichten um 19 Uhr Weltzeit: Tief »Fitzroy«, 1008 Hektopascal, wird genau westlich der Insel Rockall erwartet â¦
35
Noch einmal der Junge im Zug
Kriminalkommissarin Pearce betrat das Haus und führte Tante Gloria am Ellbogen herein. Sie brachte sie in die Küche und lieà sie Platz nehmen.
»Sie sieht aus, als könnte sie ein heiÃes Getränk vertragen«, sagte die Kommissarin. »Sie ist in einem Schockzustand.« Kat goss Tee in eine Tasse. Rashid stand auf, um Tante Gloria seinen Platz anzubieten, Er drückte sie auf den Stuhl und strich ihr übers Haar. Ihre Hände zitterten und ihre Zähne klapperten, als wäre sie gerade aus einem Schneesturm gekommen, obwohl es drauÃen warm und feucht war, ungefähr achtzehn Grad.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Mum.
Kriminalkommissarin Pearce antwortete erst,
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