Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
raaaus …«, sagt Fride und wälzt sich auf dem Boden.
Nanna schaut sie an und schüttelt den Kopf.
»Wie war es draußen? Erzähl mir, woran du dich erinnerst«, sagt Fride. »Ich will es noch mal hören.«
Nanna seufzt, aber sie lehnt sich zurück und erzählt.
»Ich weiß noch, dass wir in einer Wohnung in der Stadt gewohnt haben und wie glücklich ich war, als du geboren wurdest. Und dann erinnere ich mich, wie alles anfing zu sterben. Die Blätter fielen ab und das Gras wurde braun. Als wäre der Herbst schon im Sommer gekommen. Und dann hörte alles auf. Ich ging nicht mehr zur Schule und Papa nicht mehr an die Universität, nur Mama arbeitete weiter im Krankenhaus.«
»Und dann sind wir weggefahren?«
»Ja, eines Tages haben wir einfach das Auto geladen und sind los.«
»Und Mama ist in der Stadt geblieben und hat im Krankenhaus gearbeitet.«
»Ja.«
»Kannst du dich an noch was erinnern? Irgendwas, das du mir noch nicht erzählt hast? Wie sah unser Zimmer aus?«
»Wir haben uns ein Zimmer geteilt, das weiß ich noch. Ein blaues Zimmer mit einem kleinen Fenster, unter dem so eine Art Sofa oder Bank stand. Die Decke war schräg und an den Balken hingen Sterne und Bilder, die wir gemalt hatten.«
»Habe ich auch Bilder gemalt?«
»Nein, du nicht. Mama, Papa und ich.«
»Und ich, hatte ich nichts?«
»Du hattest dein Gitterbett und deine Kuscheltiere.«
»Das klingt so gemütlich. Warst du im Kindergarten?«
»Ja. Bevor ich in die Schule gekommen bin.«
»Wie war es im Kindergarten?«
»Er lag ganz in der Nähe unserer Wohnung und sah aus wie ein kleiner Bauernhof mitten in der Stadt. Er war in einem roten Haus und es gab ein Schiff im Sandkasten.«
»Ein Schiff? Das geht ja gar nicht.«
»Doch. Es war grün und irgendwie im Sand eingegraben.«
»Was habt ihr im Kindergarten gemacht?«
»Ich weiß noch, dass wir solche Perlen hatten, mit denen man Muster stecken konnte. Das hat Spaß gemacht.«
»Bist du alleine in den Kindergarten gegangen?«
»Nein. Mama hat mich morgens gebracht und Papa hat mich abgeholt.«
»Warum?«
»Mama hat oft bis spät gearbeitet, wenn im Krankenhaus etwas Wichtiges anstand. Manchmal musste sie einfach lange bleiben.«
»Warum?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber sie hatte viel zu bestimmen. Immer wenn ich bei ihr im Krankenhaus war, kam jemand, um sie irgendwas zu fragen.«
Nanna bleibt liegen und denkt nach. Sie versucht, sich auszumalen, wie es war, aber viele Erinnerungen sind so undeutlich. Sie weiß noch, dass Mamas Stimme schön war, aber nicht mehr, wie sie klang. Und dass sie ein paarmal in Mamas Büro im Krankenhaus saß und malte, was sie in der Stadt gesehen hatte. Wie sie all die seltsamen Bilder von Körpern an der Wand betrachtete. Und ihre Freundinnen. Die, die im selbenHaus wohnten. Hier gibt es nur Fride. Das ist nicht dasselbe. Fride ist so klein. Sie wünschte, sie könnten eines Tages in die Stadt zurückziehen. Dem Bunker entkommen. Nicht mehr immerzu dieselben Spiele spielen, dieselben Bücher lesen. Wenn sie doch nur aus der Tür gehen, bei einer Freundin klingeln und auf den Spielpatz gehen könnte. Auf den Schaukeln sitzen und den Jungs beim Fußballspielen zuschauen, bis es zu dunkel und zu kalt wird. Um dann nach Hause zu gehen und sich darüber zu freuen, in eine warme, helle Wohnung zu kommen. Nicht in einen modrigen, schimmeligen Bunker.
2
Sonntag ist immer der schlimmste Tag und Nanna ist froh, dass Montag ist und sie Schule haben. An Sonntagen ist gar nichts lustig, alles was man sich einfallen lassen kann, haben sie schon getan. Montage sind besser.
Sie wachen davon auf, dass Papa im Periskopraum rumort, dann geht er zurück in sein Zimmer und legt sich wieder hin. Fride mag es, wenn sie montags so tun, als wäre die Zeit knapp, deshalb springt Nanna aus dem Bett und schüttelt sie.
»Los, aufstehen. Heute ist Montag. Wir müssen zur Schule.«
Fride dreht sich zur Wand und versteckt den Kopf. Nanna sieht gerade noch, dass sie lächelt, bevor sie den Kopf in die Matratze bohrt.
»Komm jetzt. Ich wasche mich zuerst«, sagt Nanna und geht in die Küche.
Der Beton fühlt sich kalt und staubig unter den Füßen an. Sie nimmt ihre Zahnbürste, die neben der Spüle steht, und putzt sich mit kaltem Wasser die Zähne. Entmutigt betrachtet sie das Durcheinander auf der Arbeitsplatte. Als sie noch klein waren, achtete Papa sehr genau darauf, dass sie keine Unordnung machten, inzwischen ist ihm das nicht mehr so wichtig.
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