Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
sich aus dem Haus, als sollte niemand merken, dass sie da waren. Nanna wirft einen Blick auf die Spuren, die sie im Flur hinterlassen haben, dann zieht sie leise die Tür zu. Draußen scheint die Sonne auf das gelbe, verdorrte Gras und ein milder Wind weht. Sie haben auf einem kleinen Bauernhof übernachtet. Eilig laufen sie über die Wiese zurück in den Wald. Es ist nichts zu sehen oder zu hören. Keine Bewegung, kein Geräusch. Nur das Rauschen der Bäume und das Rascheln der Blätter auf dem Boden. Nanna wünschte, es gäbe irgendwo frische grüne Triebe. Die Natur ist krank, genau wie alle Menschen krank waren. Alles Lebendige ist tot. Sie wird so zornig, wenn sie daran denkt. Zornig, weil Papa auf dem Sofa liegt und krank ist, zornig, weil Fride einfach so herumwuselt und zornig, weil sie es ist, die alles richten soll. Fride fängt an zu summen und Nanna sagt scharf: »Sei still!«
»Was ist denn? Hier ist doch niemand.«
»Nein. Aber bald sind wir an den gelben Markierungen und deshalb musst du still sein.«
Fride hört auf zu summen und geht schneller. Sie laufenan dem Autowrack vorbei, ohne es anzusehen, vorbei an den Briefkästen und weiter, bis sie sich an einer Bushaltestelle auf eine Bank setzen und Pause machen.
»Stell dir vor, es würde ein Bus kommen«, sagt Fride.
»Ja, dann wüsste ich, was wir tun würden«, sagt Nanna und gibt Fride einen Keks.
»Dann könnten wir in die Stadt fahren«, sagt Fride.
»Ja, das wäre schön.«
»Ist es noch weit bis zur Schnellstraße?«
»Nein. Ich glaube nicht, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Wenn man in einem Auto sitzt, ist das ganz anders. Ich habe nie so genau auf den Weg geachtet. Alles sah so gleich aus. Wald, Wasser und Höfe.«
Fride zieht die Beine auf die Bank und schaut das Haltestellenschild an.
»Warum hängt da ein Plakat mit ganz vielen Zahlen unter dem Schild?«, fragt sie.
»Das sind die Buszeiten. Wann der Bus kam und abfuhr.«
»Ach so.«
Fride stellt sich neben das Schild. »Ich warte jetzt und du bist der Bus«, fährt sie fort.
»Ich kann doch nicht so tun, als wäre ich ein Bus«, sagt Nanna und packt das Essen ein. »Komm jetzt. Wir müssen weiter.«
Sie laufen einen kleinen Hügel hinunter. Neben dem Weg plätschert ein schmaler Bach. Nanna ist weniger ängstlich, solange sie gehen. Je länger sie unterwegs sind, ohne jemandem zu begegnen, und je mehr sie auf die Stille lauscht, umso sicherer fühlt sie sich. Nanna denkt an die vielen Geräusche, die es früher gab. Die vielen Autos, Radios und Menschen. Siewünschte, die Welt wäre noch immer genauso voller Leben, aber jetzt zählt nur die Stille. Dass niemand kommt.
Der Weg führt bergauf und als sie sich umdrehen, reicht die Sicht bis zum Meer. Zwischen den Schären glitzert das Wasser und weit draußen am Ende des Fjords können sie gegen den blauen Himmel den Leuchtturm sehen.
»Ich glaube, da ist unser Haus«, sagt Fride.
Nanna schaut genau hin, aber sie kann die kleinen Inseln nicht mehr voneinander unterscheiden.
»Das ist ja schön«, sagt sie. »Dann wink Papa.«
Fride winkt und sie gehen weiter über die Bergkuppe. Als sie ins Tal schauen können, bleiben sie stehen. Vor ihnen liegt die Schnellstraße, breit und grau. Neben einer ausgebrannten Tankstelle mit zerstörten Reklameschildern steht ein verlassenes Auto. Fride streckt eine Hand aus und greift nach Nannas Rucksack.
»Was ist das da?«, fragt sie.
»Ich glaube, das war mal eine Tankstelle. Für Autos.«
»Die ist aber hässlich. Warum ist sie kaputt?«
»Ich weiß nicht.«
»Sieht es in der Stadt auch so aus?«
»Hoffentlich nicht.«
Dichter, gelbbrauner Wald säumt die Straße. Aber wenn sie erst dort unten sind, gibt es keine Möglichkeit mehr, sich zu verstecken. Der Asphalt führt einfach nur geradeaus.
»Müssen wir da runter?«, fragt Fride.
»Ja«, sagt Nanna. »Ab jetzt müssen wir nur noch geradeaus.«
»Gibt es keinen anderen Weg?«
»Nein, nicht dass ich wüsste. Durch den Wald dauert eszu lange. Wir müssen der Schnellstraße folgen. Das geht am schnellsten.«
»Aber im Wald ist es sicherer.«
»Ja. Aber jetzt komm.«
Die Sonne brennt auf den Asphalt. Die Luft flirrt und riecht ein bisschen wie die Lackdosen in der Werkstatt im Bunker. Nanna geht voraus und versucht, den Weg so weit wie möglich zu überblicken. In der Ferne, dort, wo sich der Wald dicht und hoch über einen Bergrücken zieht, verschwindet die Straße in einem Tunnel. Fride hüpft auf der gelben
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