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Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Titel: Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Henrik Nielsen
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Kreise aufgemalt. Ein schmaler Pfad zweigt vor dem Wrack in den Wald ab.
    »Diesen Weg gehen wir nicht weiter«, sagt Fride. »Nicht da, wo gelbe Kreise sind.«
    »Nein«, sagt Nanna. »Wir schauen mal, ob dieser Pfad da zum Troll-Haus führt. Wenn nicht, kehren wir um.«
    Fride kneift die Augen zu, als sie an den Wrackteilen vorbei in den Wald gehen. Nanna hat das Gefühl, als könnte überall jemand lauern. Sie haben keine Ahnung, was sie hier erwartet.Der Tag war so lang. Unglaublich, dass sie heute morgen noch auf der Insel waren. Sie schaut sich um und ihre Angst, entdeckt zu werden, ist riesig. Der Pfad ist dunkel und die Zweige hängen so tief herunter, dass der Weg fast zum Tunnel wird. Langsam tauchen sie in den Wald und die Stille ein. Außer den Geräuschen, die sie beim Gehen machen, ist nichts zu hören. Nanna kommt es vor, als würde jeder ihrer Schritte durch den ganzen Wald hallen.
    »Warte«, flüstert sie Fride zu.
    Fride bleibt stehen und fängt an, gegen eine Wurzel zu treten.
    »Steh ganz still. Mucksmäuschenstill.«
    Es wird still. Der Wald wird still. Sie sind alleine in der Dunkelheit und das gibt ihnen Sicherheit.
    »Ich glaube, wir sind alleine«, flüstert Nanna nach einer Weile. »Wir gehen weiter.«
    Sie erreichen eine kleine Lichtung. Auf einer Wiese mit langen Halmen, die flach auf dem Boden liegen, steht hinter ein paar Bäumen ein kleines, weißes Haus mit einer roten Scheune. Sie bleiben am Waldrand stehen und spähen hinüber. Die Fenster sind dunkel.
    »Da sind keine gelben Kreise«, flüstert Fride.
    »Nein«, sagt Nanna. »Wir versuchen es.«

11
    Langsam gehen sie auf das Haus zu. Wenn jemand kommt, müssen sie rennen. Rennen, so schnell sie können, zurück in die Dunkelheit und Stille des Waldes. Aber nichts rührt sich und sie schleichen vorsichtig weiter. Über der Tür ist ein Fenster, das aussieht wie ein Fächer. Nanna sieht, wie aufgeregt Fride ist. Überhaupt scheint ihre Schwester keine Angst zu haben: Sie steht trippelnd vor der Tür und versucht, durch das verhängte Fenster neben der Treppe zu schauen. Nanna drückt prüfend auf die Klinke, die nach unten gleitet. Sie öffnet die Tür und gemeinsam betreten sie das Haus.
    Im stockfinsteren Flur schlägt ihnen feuchter Schimmelgeruch entgegen.
    »Warte hier«, flüstert Nanna.
    Sie lauscht und atmet ruhig.
    »Ich glaube, es steht leer.«
    »Mir gefällt es hier«, sagt Fride. »Ich hoffe, wir finden was zu essen. Ich habe Hunger.«
    »Ich auch«, sagt Nanna.
    Sie holt ihre Taschenlampen aus dem Rucksack, schaltet das rote Nachtlicht an und dann fangen sie an, das Haus zu erforschen. Alles wirkt unberührt. Im Esszimmer liegt eine Häkeldecke auf dem Tisch, in der Mitte steht eine große Suppenschüssel. Die Küche ist aufgeräumt und die Schranktüren sind geschlossen. Die Kissen auf dem Sofa im Wohnzimmer sind hübsch geordnet und die Fernbedienung liegt oben auf dem Fernseher.
    »Was ist das?«, fragt Fride.
    »Das ist ein Fernseher«, antwortet Nanna.
    »Der sieht anders aus als auf den Bildern.«
    »Das stimmt, er ist moderner als die Fernseher in den Büchern, die wir haben. Er sieht so ähnlich aus wie der, den wir in der Wohnung hatten.«
    »Können wir ihn ausprobieren?«
    »Hier gibt es keinen Strom.«
    »Oh«, sagt Fride. »Wie dumm.«
    An der Wand zur Küche hängen Fotos von kleinen Kindern und Teenagern, ein Brautpaar ist zu sehen und alte, strenge Gesichter in schwarz-weiß.
    »Glaubst du, das sind die Leute, die früher hier gewohnt haben?«, fragt Fride.
    »Ja, bestimmt.«
    »Das ist komisch«, sagt Fride. »Dass die hier gewohnt haben, und jetzt sind wir in dem Haus.«
    »Ja«, sagt Nanna und schaut die Bilder an. »Das ist komisch.«
    Auf einem der Fotos sitzen zwei kleine Kinder in einem aufblasbaren gelben Planschbecken, daneben steht ein Mann und füllt das Becken mit einem Gartenschlauch. Alle lachen. Sie sehen so fröhlich aus.
    »Lass uns nachsehen, ob wir was zu essen finden«, sagt Nanna und geht in die Küche.
    Sie durchsucht gründlich alle Schränke, aber in den meistenstapeln sich nur Teller und Gläser. Erst als sie den Schrank über dem Herd öffnet, strömt ihr ein süßlicher Geruch entgegen.
    »Schau mal Fride. Rosinen. Ich glaube, Nüsse sind auch da. Und hier. Kekse.«
    Nanna dreht sich um und merkt, dass Fride verschwunden ist. Sie schaut durch eine offene Tür in ein blaues Bad. Sie zieht den dunklen Duschvorhang beiseite, bevor sie ins Wohnzimmer leuchtet und dann in den Flur.

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