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Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)

Titel: Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Henrik Nielsen
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erwachsen bist und ich in den Kindergarten gehe?«
    »Na klar können wir das«, sagt Nanna und lächelt. »Dann fangen wir am besten damit an, dass wir vor der Freispielzeit ein bisschen malen. Und vielleicht können wir in der Spielküche noch etwas kochen.«
    Sie gehen aus dem Sternenzimmer und Fride stellt sich an den Tisch.
    »Wo ist mein Platz?«
    »Oh je, das haben wir ja ganz vergessen«, sagt Nanna und tut so, als würde es ihr leidtun. »Du kannst dich hier ans Tischende setzen und dann malst du als Erstes ein Bild von dir, das wir auf den Tisch kleben können.«
    Nanna holt Malsachen. Fride beugt den Kopf nach unten und malt los.
    »Ich bin fertig«, sagt sie nach einer Weile.
    »Schön«, sagt Nanna und nimmt das Bild.
    In die Mitte hat Fride einen großen Baum auf einer kleinen Insel gemalt. Dunkle Gänge führen auf den Meeresgrund. In den Zweigen sitzen kleine Menschen mit runden, lachenden Gesichtern.
    »Sind wir das?«, fragt Nanna.
    »Ja«, sagt Fride. »Alle zusammen. Du und ich, Mama und Papa und Vogel. Wir wohnen in Vogels Baum.«
    »Aber der steht doch auf einer Insel.«
    »Ja, auf unserer Insel.«
    »So ein schönes Bild«, sagt Nanna und nimmt den roten Deckel vom Klebestift ab.
    Kleine Kleberkrümel rieseln herunter, als sie damit über das Blatt streicht.
    »So«, sagt Nanna und presst das Bild auf die Tischplatte. »Jetzt hast du auch einen Platz hier. Dann können wir gehen. Nicht wahr?«
    Fride nickt.
    »Wir kommen lieber ein andermal wieder.«
    Langsam gehen sie aus dem Kindergarten. Mit dem Rad fahren sie an den Bäumen vorbei auf den Platz, der hinter dem Park liegt. Rundherum stehen Stadthäuser.
    »Sind wir da?«, fragt Fride erwartungsvoll.
    »Ja. Wir sind da. Gleich siehst du es«, sagt Nanna.
    Sie stehen vor einem blauen Haus mit kleinen Läden imErdgeschoss, darüber sind Balkone und dunkle Fenster, die mit Figuren verziert sind. Neben einem der Schaufenster, in dem jede Menge Bücher stehen, hängt ein halbes Fahrrad über der Tür. An der Ecke ist ein Lebensmittelgeschäft mit leeren Obstregalen vor der Tür.
    »Wo sind unsere Fenster?«, fragt Fride.
    »Unsere sind die obersten. Siehst du, das eine Fenster, das ganz nah am Dach ist?«
    »Ja.«
    »Das ist unser Zimmer.«
    »Oh.«
    »Bist du bereit?«
    »Ja.«
    »Wir verstecken das Fahrrad im Hinterhof und dann gehen wir hoch.«
    Es ist seltsam, durch die Einfahrt zu gehen. Nanna hat das Gefühl, alles zu kennen, sogar das Geräusch ihrer Schritte. Sie geht langsam und zögert die Zeit hinaus, als wollte sie eigentlich gar nicht nach oben. Fride läuft neben ihr her und summt. Der Hinterhof ist grau und winzig kleine Regentropfen nieseln auf sie herunter. Sie stellen das Rad in den Fahrradschuppen und nehmen den Rucksack mit. Ganz hinten in einer Ecke steht ein kleines Dreirad. Nanna erkennt es, aber sie sagt lieber nichts. Dann steigen sie langsam die Treppe hoch.
    Alles ist vertraut. Die Treppenstufen, auf denen sich das Linoleum gelöst hat, das Geländer, von dem der Lack abblättert. Nanna lauscht. Früher veränderten sich die Geräusche, während man die Treppe hochstieg. Die gedämpften Laute erzählten, was sich hinter den Türen abspielte. Ein laufenderFernseher oder eine brummende Dunstabzugshaube, ein klingelndes Telefon.
    In der vorletzten Etage bleibt Nanna stehen und liest das Türschild: Hier wohnen Anne, Inger, Liv und Thor .
    »Ist es hier?«, fragt Fride.
    »Nein. Aber ich kannte eine, die hier gewohnt hat.«
    »Wen denn?«
    »Meine beste Freundin. Inger. Sie hatte auch eine kleine Schwester, Anne.«
    »Aha«, sagt Fride.
    Es ist nur noch ein Stockwerk übrig und Nanna bleibt stehen. Sie betrachtet das Bild mit dem Fischer, das am Treppenabsatz hängt. Dann sind sie oben. Hier gibt es nur eine Tür.
    »Das ist sie. Nicht wahr? Ich weiß es«, sagt Fride.
    Nanna nickt.

29
    Vorsichtig hebt Nanna die vertrockneten Halme in dem hohen Blumentopf an, der neben der Tür steht. Der Schlüssel liegt genau da, wo Papa gesagt hat. Sie dreht ihn im Schloss um und öffnet die Tür. Ein schwacher, würziger Duft nach Tee und alten Möbeln strömt ihnen entgegen. Nanna atmet ihn tief ein und dann laufen ihr die Tränen einfach über die Wangen.
    »Das ist ja wie zu Hause«, sagt Fride. »Genau wie zu Hause. Genau wie im Bunker.«
    Sie geht in die Wohnung und schaut sich um.
    Nanna folgt ihr und lauscht. Aber es kommt niemand. Die Wohnung ist leer.
    »Wo ist unser Zimmer?«
    Nanna antwortet nicht.
    »Ist es das hier?«,

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