Der Junge, der sich Vogel nannte (German Edition)
stehen, zeigt auf dunkle Treppen oder Abgänge und erzählt von den Schatten, bevor sie weiterfahren.
An einem zerstörten Bahnhof macht er lange Halt. Riesige Stahlbögen liegen eingestürzt über dem Bahnhofsgebäude.
»Ein Mal waren hier viele Schatten«, sagt Vogel. »Von hier führt ein Eisenbahntunnel aus der Stadt. Ich dachte, sie würden überall auftauchen, nachdem ich sie hier beobachtet hatte. Die liefen in den Tunnel rein und raus und es sah aus, als würden sie Kisten schleppen. Danach habe ich mich lange im Wald versteckt.«
»Hast du auch Schattenkinder gesehen?«, fragt Fride.
»Nein. Natürlich nicht«, antwortet Vogel und fährt weiter.
Nach einer Weile stoßen sie wieder auf die Straßenbahnschienen, denen sie eine Weile folgen, bevor Vogel wieder abbiegt.
»Warum fahren wir nicht direkt zum Krankenhaus?«, fragt Nanna. »Das war doch der richtige Weg.«
»Ich will sichergehen, dass uns niemand beobachtet«, sagt Vogel.
»Hast du jemanden gesehen?«
»Nein. Heute scheint alles ruhig zu sein.«
»Wir haben keine Zeit für noch mehr Umwege«, sagt Nanna. »Ab jetzt nehmen wir den direkten Weg.«
Vogel hält an.
»Das solltet ihr nicht tun«, sagt er. »Sonst werden sie wütend und sperren die Brücken. Dann kommt ihr für eine lange Zeit nicht nach Hause.«
»Das Risiko müssen wir eingehen«, sagt Nanna.
»Du kennst sie nicht.«
»Du etwa? Du hast sie doch nur gesehen, sagst du.«
»Schon. Aber ich weiß, wie sie sind. Es wird schiefgehen.«
»Du musst ja nicht mitkommen, wenn du nicht willst.«
»Doch, das muss ich«, sagt Vogel und fährt wieder los. »Sonst schafft ihr es nie.«
●
Sie nähern sich dem Krankenhaus und sehen die Gebäude hinter dem Tor. Nannas Blick fällt auf die zerbrochene Glastür und sie wünschte, sie wären noch nie hier gewesen. Jetzt wissen die Schatten, dass es in dem Gebäude etwas gibt, das sie haben wollen. Vogel bleibt vor dem Tor stehen und wirft sein Rad gegen den Zaun. Es scheint ihn nicht zu kümmern, dass das Lärm macht.
»Ich gehe vor«, sagt er.
Nanna nickt.
Er huscht leise über den Asphalt auf den Eingang zu.
Jetzt tut er es wieder, denkt Nanna. Er fliegt.
Dann ist er im Dunkeln verschwunden und sie bleiben alleine zurück und warten.
Nach einer Weile taucht Vogel wieder auf. Er winkt ihnen und sie fahren mit dem Rad vor die Tür.
»Kommt. Wir müssen schnell sein«, sagt er.
»Sind sie da?«
»Im Augenblick nicht«, sagt Vogel.
»Woher weißt du das?«, fragt Fride.
»Weil ich sie hören kann«, antwortet Vogel.
»Kannst du so gut hören?«
»Ja«, sagt Vogel. »Ich weiß, wie alles klingen muss. Jeder Ort hat seinen eigenen Klang. Aber jetzt müssen wir los. Wo ist das Büro eurer Mutter?«
»Es ist nicht weit. Im ersten Stock direkt neben dem Aufzug. Wie sind einfach immer nur die Treppe hochgegangen.«
Sie gehen an der Cafeteria vorbei und neben dem Aufzug sehen sie das rote Kreuz. Nanna wirft einen Blick in die Apotheke. Alle Regale sind leer.
Sie gehen die Treppe hoch und Nanna schaut nach links und rechts. In den Fluren stehen Betten, fleckige Laken liegen auf dem Boden. Aber dann entdeckt sie den Stuhl, auf dem sie immer saß, wenn sie auf ihre Mutter warten musste. Er steht noch am selben Ort. Das ist ein gutes Zeichen.
»Wir müssen da lang«, sagt sie und nimmt Fride an der Hand.
»Still«, sagt Vogel.
Sie bleiben stehen und Nanna lauscht. Sie lauscht bis in denKeller des Gebäudes, aber es ist nichts zu hören. Nur ihr eigenes Atmen und das Blut, das im Kopf pocht.
»Es ist alles ruhig«, sagt Nanna.
Vogel schüttelt den Kopf.
»Nein. Sie sind unterwegs. Ich kann sie hören.«
Nanna geht langsam zum Ende des Flurs und bleibt vor der Tür zum Büro stehen. Sie ist zu. Das Namensschild hängt noch da.
Nanna öffnet die Tür und schaut in das Zimmer. Für einen Moment fällt Licht auf die weißen Vorhänge und es sieht aus, als würde jemand im Raum stehen, aber da ist niemand.
Im Büro hat sich nichts verändert. Die Plakate hängen noch an der Wand, auf dem Schreibtisch stehen der Computer und das Glas mit Bleistiften. Auch die blaue Liege und der Rolltisch mit Instrumenten und Metallschalen sind noch da. »Hat Mama hier gearbeitet?«, fragt Fride.
»Ja«, sagt Nanna.
»Hat sie den anderen Medizin gegeben?«
»Ja.«
»Und sie aufgeschnitten?«
»Nein. Nicht hier«, sagt Nanna und geht zum Schreibtisch, während Fride stehen bleibt und die Pinnwand betrachtet.
Der Schreibtisch ist leer. Kein
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